TexturenBerufspraxis
Stroh zu Gold oder Gold zu Stroh? Zur Ambivalenz öffentlicher Autorenlesungen
von Dr. Anja Johannsen
Ausgerechnet das Märchen vom Rumpelstilzchen, erklärt Felicitas Hoppe in ihren Augsburger Poetikvorlesungen, lasse sich
als eine Art Patronatstext für den Literaturbetrieb in all seinen Facetten lesen, die Rollen können dabei, wie im wirklichen Leben, beliebig wandern und auf unterschiedliche Weisen verteilt werden. Wer ist in dieser Geschichte der Agent, der Zwischenhändler, wer der Verleger, wer der Verkäufer und wer der Käufer? Steckt nicht irgendwo auch noch ein Kritiker? Mit was wird gehandelt? Mit Luft, mit Liebe, mit Stroh? Mit Versprechungen und Verheißungen? […] Schließlich und endlich: Wer ist der Künstler? Die Müllerstochter oder das Rumpelstilzchen?[1]
Kein vollkommen neuer, aber gegenwärtig zunehmend raumgreifender Handelsschauplatz für Luft, Liebe und Stroh in der Branche ist die Literaturveranstaltung. Autorenlesungen – z. B. in Buchhandlungen – hat es freilich lange schon gegeben, erst aber mit dem Aufkommen großer Literaturfestivals und der Literaturhäuser in den vergangenen zwei Jahrzehnten ist eine Institutionalisierung der Literaturveranstaltung in großem Maßstab diagnostizierbar: Die Klassiker unter den jährlichen Festivals entstanden zwar bereits zwischen 1970 und 1980;[2] die ganz großen Publikumsmagneten wie das – sich selbst so bezeichnende – größte »Lesefestival« Europas Leipzig liest (1991), die lit.Cologne, das internationale literaturfestival berlin (beide 2001) oder Hamburgs Harbour Front (2009) sind aber weitaus jüngeren Datums. Mittlerweile umfasst die Liste der Literaturfestivals, die Wikipedia führt, über fünfzig Festivals im deutschsprachigen Raum. Und ähnlich verhält es sich mit den Literaturhäusern: Die ›Urmutter‹ all dieser Häuser, das Literarische Colloquium Berlin am Wannsee, gibt es zwar schon seit 1963, war allerdings immer auch Stipendiatenhaus und somit kein reiner Veranstaltungsort; das erste Literaturhaus im strengeren Sinn, mit dem auch die Bezeichnung geboren war, wurde erst 1986 in Berlin-Charlottenburg eröffnet. Im Jahr darauf zog Hamburg nach, in den 1990ern folgten Wien, Frankfurt am Main, Rostock, Salzburg, Leipzig, München, Köln und Zürich, 2001 Stuttgart, 2003 Graz, und seither sind in diversen anderen Städten meist mittlerer Größe weitere entstanden bzw. im Aufbau begriffen, u.a. in den neuen Bundesländern.[3]
Die Leseveranstaltung kann sich bei der Bevölkerung großer Beliebtheit erfreuen; unter Literaturwissenschaftlern aber trifft man in Alltagsgesprächen auffallend häufig auf Skepsis dem gesamten Veranstaltungsbetrieb gegenüber. Die Gründe scheinen zunächst auf der Hand zu liegen. »Zwischen Gottesdienst und Rummelplatz« siedelt Thomas Wegmann in seinem vielzitierten Text die Leseveranstaltung an,[4] und natürlich finden sich zu beiden in diesem Zusammenhang durchaus abschreckenden Begriffen reichlich Beispiele aus der Branche. Das Stichwort ›Gottesdienst‹ ruft sofort die altbackene weihevolle ›Dichterlesung‹ ins Gedächtnis, deren ungute Ingredienzien wahrscheinlich nirgends besser eingefangen sind als in Loriots Frohwein-Episode in Pappa Ante Portas, wo das Publikum zu Sonettenkränzen in tiefen Schlummer sinkt. Zum ›Rummelplatz‹ fällt mir ein, wie der Oldenburger Autor Klaus Modick bei einer Podiumsdiskussion in Göttingen zum Veranstaltungsbetrieb[5] berichtete, das Schlimmste in Sachen ›Eventisierung‹ sei ihm in Hamburg widerfahren, als man anlässlich eines Lesefestivals in Planten un Blomen die geladenen Autoren in den Bäumen des Parks zu platzieren und sie von dort lesen zu lassen gedachte; Modick verzichtete auf diese Verdienstmöglichkeit. Vergleichbare Anekdoten – vom einen wie vom anderen Pol der Schreckensskala – ließen sich zahllose finden. Allein, die Skepsis dem Veranstaltungsbetrieb gegenüber rührt m. E. nicht allein von solcherlei Kuriositäten her. Auch, wo Autoren nicht zum Affen gemacht und das Publikum nicht mehr in eine Form der vermeintlichen Andacht gezwungen werden soll, bleiben meiner Beobachtung nach vielfach Vorbehalte gegenüber der Leseveranstaltung als solcher bestehen. Im Folgenden möchte ich versuchen, diesen auf den Grund zu kommen, auch um zu prüfen, inwieweit sie sich entkräften lassen.
Die kritischen Bemerkungen lassen sich grob in zweierlei Themenfeldern verorten. Zum einen ist es in der Tat das »marktähnliche Geschehen«, wie Wegmann formuliert, das zu missfallen scheint: die Tatsache, dass Veranstalter »mehr oder weniger obskure Ware feilbieten, etwa ein ansonsten eher selten erhältliches Kompositum aus Zucker und Watte«,[6] sprich: dass sie Geld machen, indem sie Autoren auf die Bühne schicken. Der Verdacht, es würde hier vornehmlich mit Stroh, das sich als Gold ausgibt, gehandelt, sitzt tief. Entsprechend nah beieinander werden die Schmähwörter Eventkultur und Kommerzialisierung im Mund geführt – und dies, das sei gleich angefügt, nicht ganz ohne Grund. Wichtig scheint mir allerdings, die oft etwas unglückliche Melange aus kapitalismuskritischen Impulsen, Elitismus und einem eingefleischten Kulturkonservativismus achtsam zu entmischen und die reflexartigen Invektiven zu unterscheiden von der gut begründeten Kritik.
Der zweite Themenbereich, in dem sich skeptische Anmerkungen von literaturwissenschaftlicher Seite zum Veranstaltungsbetrieb oftmals bewegen, hat – wiederum zunächst sehr grob formuliert – mit dem flüchtig, simpel und naiv wirkenden Charakter der dort in Szene gesetzten Form der Textrezeption zu tun, die den Eigenheiten der konzentrierten, stillen Lektüre genau entgegengesetzt scheint. Gerade in den 1980er und 1990er Jahren, also interessanterweise ausgerechnet in jener Zeitspanne, in der sich Literaturhäuser und -festivals zu etablieren begannen, war im akademischen Kontext nichts so verpönt wie die Frage nach der Autorintention und kaum etwas so gefürchtet wie der Biografismusverdacht. Zur selben Zeit also saßen – und sitzen noch – Abend für Abend Autoren auf Lesebühnen, geben Auskunft über sich und ihre Bücher, d. h. sie werden bedenkenlos als privilegierte Interpretatoren ihrer eigenen Texte herangezogen und lassen sich nach den biografischen Anteilen ihrer Texte befragen. Damit setzt sich die Literaturveranstaltung per se erst einmal fraglos dem Generalverdacht einer immensen theoretischen Naivität aus.
Bislang liegt kaum Forschungsliteratur zum Veranstaltungsbetrieb vor.[7] Das ist insofern erstaunlich, als doch zumindest zwei Jahrzehnte Zeit gewesen wären, sich die zunehmende Institutionalisierung dieser Rezeptionsform genauer anzusehen. Zwar sind Literaturhäuser meiner Beobachtung nach mittlerweile zu einem relativ beliebten Bachelor- oder Masterarbeitsthema avanciert; es ist mir allerdings nur eine größere Studie bekannt:[8] Die Dissertation von Sonja Vandenrath, heute Literaturreferentin in Frankfurt am Main, beleuchtet vor allem den Zusammenhang von konzeptionellen und – gerade auch die Finanzierung betreffenden – strategischen Fragen und gibt entsprechend Aufschluss über den Balanceakt zwischen unternehmerischem Risiko und kulturellem Auftrag.[9] Auf die benannte Skepsis reagiert weder diese Arbeit noch die – ohnehin recht überschaubare – Menge an kleineren Publikationen, die vom Führungspersonal aus dem Veranstaltungsbetrieb verfasst wurde.[10] Ebenfalls nicht viel zur Schärfung eines kritischen Blicks auf Literaturveranstaltungen tragen m.E. feuilletonistische Debatten wie die von Stephan Porombka initiierte Diskussion um Ab- oder Weiterleben der Wasserglaslesung bei.[11] Die Tauglichkeit von Veranstaltungsformaten immer wieder zu überprüfen, ist für Veranstalter fraglos eine notwendige Angelegenheit; aus literaturwissenschaftlicher Perspektive gibt es wesentlich interessantere Fragen an den Veranstaltungsbetrieb, die zu diskutieren noch aussteht: Fragen beispielsweise nach Heteronomie bzw. Autonomie der Literaturveranstalter, nach den Auswirkungen der Etablierung des Veranstaltungsbetriebs auf die Textproduktion selbst, Fragen nach den im Veranstaltungsbetrieb dominierenden Literaturbegriffen, nach Fremd- und Selbstinszenierung von Autoren auf Lesebühnen etc.
Ich will im Folgenden versuchen, zumindest einen Teil dieser Fragen anzureißen und mögliche Antworten zu skizzieren. Lenken lassen werde ich mich dabei weiterhin von den beiden Polen Konsumismus/Kommerzialisierung einerseits und dem Vorwurf der theoretischen Naivität andererseits, um die sich die Kritik am Veranstaltungsbetrieb, wie angesprochen, gruppieren lässt.
Leitend ist also die Absicht, den Veranstaltungsbetrieb aus wissenschaftlicher Perspektive besser in den Blick zu bekommen. Die Überlegung, wie der Veranstaltungsbetrieb zu gestalten ist, um weniger Skepsis hervorzurufen bzw. der vorhandenen Skepsis klug zu begegnen, läuft wie ein weitaus kleineres Nebengleis parallel mit.
Vorbehalt Nr. I: Eventkultur und Kommerzialisierung
Aber zunächst zurück zum Zusammenhang von Eventkultur und Ökonomisierung des gesamten Literaturbetriebs. Die vielfach beklagte Kommerzialisierung ist ja durchaus nicht dem Veranstaltungsbetrieb vorbehalten, im Gegenteil: Die gesamte Buchbranche wird mittlerweile dominiert von der enormen Beschleunigung des Markts, den Konzentrationsprozessen im Buchhandel und im Verlagswesen und stark gestiegenen Renditeerwartungen, gerade auch in den Verlagen: Wo vor zwanzig Jahren noch Umsatzrenditen von 2-5 % üblich waren, lauten die Zielvorgaben in den Verlagskonzernen mittlerweile längst 10-15 %.[12] Die kleineren Verlage haben es zunehmend schwer, den Entwicklungen auf dem von Großkonzernen beherrschten Markt etwas entgegenzusetzen. Gute alte Werte des Literaturbetriebs wie die Autorenbindung gelten in den großen Verlagen oft nicht mehr viel, der Einfluss von Literaturagenten und Scouts dagegen wächst.[13] Der Leser schließlich, so wird oft moniert, ist mit einer vielfach als Überproduktion gescholtenen Masse an Neuerscheinungen konfrontiert und findet die einzig mögliche Orientierung in Bestseller- und Bestenlisten oder in einer Literaturkritik, die gewöhnlich nur das ohnehin schon Erfolgreiche absegne, so konstatiert beispielsweise Sigrid Löffler in einem Rundumschlag, abgedruckt als Leitartikel im ersten Literaturen-Heft des Jahres 2008, über den gegenwärtigen Zustand des Literaturbetriebs.[14]
Der Veranstaltungsbetrieb ist zwar nur ein kleineres Rädchen im Gesamtgetriebe der Branche, steht aber durchaus in dem Ruf, deren Tendenz zum Mainstreaming Vorschub zu leisten. Und nicht nur das: Zuweilen scheint der Veranstaltungsbetrieb gewissermaßen als die Klimax der Kommerzialisierung des Literaturbetriebs zu gelten. Angesichts der Bandbreite dessen, was der Lesungsbetrieb bietet – von der kleinen Lyrikveranstaltung in der Off-Szene bis hin zu Frank Schätzings Show in Mehrzweckhallen –, lässt sich ein solches Pauschalurteil aber nicht aufrechterhalten. Geschuldet sind diese Negativreflexe auf die Veranstaltungsbranche m. E. der Ablösungsbewegung vom Buch, die jede Literaturveranstaltung vollzieht. Natürlich reden Veranstalter wie Verlage immer gerne darüber, wie schön sich die stille Lektüre zuhause (die normalerweise den Buchkauf voraussetzt) und der Besuch öffentlicher Lesungen ergänzen. Faktisch stellt die Veranstaltung neben dem Produkt Buch allerdings ein eigenes, zusätzliches Produkt dar. Insofern rangiert sie bei manchem Buchliebhaber eher unter den wenig brauchbaren Byproducts wie dem Poster zum Film o. ä. Und wie man die wachsenden »Nonbook-Bereiche« in den Filialen der Buchhandelsketten beklagt, betrachtet man auch die flächendeckende Ausbreitung des Veranstaltungsbetriebs mit Argwohn: Die zunehmend konsumistische Erlebnisgesellschaft will beschäftigt sein, ohne sich mühen zu müssen. Hören ist leichter als lesen – mag man meinen.
Gerade angesichts des diffusen Argwohns lohnt es sich, genauer darüber nachzudenken, was für ein Produkt das ist: die Literaturveranstaltung. Im eigentlichen Sinne eine Verkaufsveranstaltung – wie die Signierstunde in Buchhandlungen, die im Großteil des (auch europäischen) Auslands nach wie vor das einzige Veranstaltungsformat darstellt, das die Buchbranche kennt – ist die öffentliche Lesung entgegen der landläufigen Meinung nicht. Sollte sie dies je sein, dann verfehlte sie ihren Zweck mit erschreckender Regelmäßigkeit. Befragt man Buchhändler, die Büchertische bei Veranstaltungen stellen, nach ihren Verkäufen, ist die Antwort fast immer ernüchternd: Werden fünf Bücher veräußert bei einer von fünfzig Leuten besuchten Lesung, gilt das als viel. Zwar werden sowohl in den Literaturhäusern als auch auf den meisten Festivals dennoch Büchertische organisiert, um dem Besucher die Option zum Blättern und zum Kauf zu bieten – es geht aber tatsächlich vor allem um die Möglichkeit; genutzt wird diese weitaus seltener als man annehmen möchte.
Auch wenn Lesungen also nur selten direkt zum Buchkauf führen, sind sie durchaus als ein Marketinginstrument zu begreifen. Verlage sind mittlerweile so stark interessiert daran, ihre Autoren an möglichst vielen Orten zu möglichst vielen Gelegenheiten auftreten zu lassen, dass sie seit den 1990er Jahren eigens Stellen zu diesem Zweck geschaffen haben. In jedem großen Publikumsverlag sind heute mindestens ein, zwei Personen – fast immer Frauen – angestellt, um die Lesereisen der Verlagsautoren zu organisieren und bei den Veranstaltern für Lesungen mit selbigen zu werben.[15] Das zeigt sehr klar, dass sich die Verlage selbstverständlich von Lesungen versprechen, gute ›Reklame‹ zu sein – Reklame im alten, im Vergleich zur heutigen Verwendung noch deutlich weniger ausdifferenzierten Wortsinn, wie ihn Thomas Wegmann in Dichtung und Warenzeichen verwendet und folgendermaßen erläutert:
Schließlich erfasst er [der Begriff] nicht nur, was aktuell und dezidiert als ›Werbung‹ bezeichnet wird, sondern darüber hinaus auch Marketingstrategien, Public Relations etc., kurz: all das, womit gezielt und intentional Aufmerksamkeit auf bestimmte Produkte, Personen und Dienstleistungen gelenkt werden soll, um so ökonomisches und/oder symbolisches Kapital einzunehmen.[16]
In exakt diesem Sinn ist die Literaturveranstaltung eindeutig ein Reklameinstrument – für Verlage, für Autoren und für die Veranstalter selbst. Sie ist angesichts der Aufmerksamkeitskonkurrenz in der gegenwärtigen Medienkultur ein sehr willkommenes Mittel, zunächst schlicht aufmerksam zu machen – auf ein Buch, auf eine Autorin – und somit ökonomisches und/oder, mit Bourdieu gesprochen, symbolisches Kapital anzuhäufen.
In den Buchwissenschaften wird seit jeher vom Doppelcharakter des Buchs als Handels- und Kulturgut gesprochen,[17] d. h. auch das Buch selbst ist natürlich immer auch Handelsware. Das Wissen um den Warencharakter des Buchs wird durch dessen Stilisierung als unbezahlbares Kulturgut jedoch deutlich zurückgedrängt. Das Reklamehafte der Literaturveranstaltung dagegen weist gerade auf den Warencharakter eines jeden Stücks Literatur hin und ruft damit Misstrauen hervor – ein Misstrauen, das auf eine lange Tradition zurückblicken kann. In seiner Einleitung zu dem Band Warenästhetik geht Heinz Drügh den Weg nochmals ab, der auch zu diesen Vorbehalten geführt hat: Drügh erinnert an Marx Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert einer Ware und dessen Feststellung, im kapitalistischen Warenverkehr dominiere der Tauschwert den Gebrauchswert; der Tauschwert werde einer Fetischisierung unterzogen. Der Philosoph Wolfgang Fritz Haug, auf den der Begriff der Warenästhetik zurückgeht, wies 1971 – auch daran erinnert Drügh – daraufhin, die Systemlogik des Konkurrenzkampfes im Kapitalismus mache es zunehmend erforderlich, dass Marketingmaßnahmen grundsätzlich einen Gebrauchswert nur mehr verheißen; es gehe um das Versprechen selbst, nicht um dessen Einlösung. Haug war der Ansicht, durch den Warenverkehr werde die menschliche Bedürfnisstruktur so konditioniert, dass jene Verhaltensmuster, die der Kapitalismus uns andressiert, auf alle Lebensbereiche des Menschen durchschlagen und das Individuum seinerseits zur Ware verdinglicht wird. Die Kultur verkommt damit zur ›Kulturindustrie‹. Die Denkfigur ist aus Adorno/Horkheimers Dialektik der Aufklärung bekannt, und immer noch, so Drügh, sei die Ansicht weit verbreitet, die Selbstständigkeit des ästhetischen Scheins werde vom Reklamecharakter der Kultur verdrängt.[18] In die Debatte um Warenästhetik ist in den letzten Jahren aber Bewegung geraten. So gilt mittlerweile – zurückgehend auf die wiederum bereits aus den 70er Jahren stammende Annahme einer Subversivität des Genießens, d. h. auch des Warengenusses – als unumstritten, dass der Warenästhetik eine nicht zu umgehende Ambivalenz innewohnt: Konsum ist eben auch, so zitiert Drügh Hartmut Böhme, eine Praktik, die »das kreative Zentrum der Kultur« bilde – einer Kultur, die ein »Land der tausend Fetische« sei.[19]
Dieser Hintergrund, d. h. das Wissen um die Ambivalenz eines jeden Konsums, scheint mir unerlässlich, will man den Literaturveranstaltungsbetrieb mitsamt seinem Reklamecharakter nicht in Bausch und Bogen als Auswuchs einer ohnehin verkommenen Kulturindustrie verwerfen, sondern in seiner ganz spezifischen Ambivalenz verstehen. Und zu dieser spezifischen Ambivalenz trägt vor allem bei, dass es bei den Waren, für die hier Reklame gemacht wird, nicht allein um materielle Waren, sprich: Bücher geht, sondern auch um Figuren: um Autoren. Und damit bin ich bei meinem zweiten Cluster skeptischer Fragen an die Literaturveranstaltung angelangt.
Vorbehalt Nr. II: theoretische Naivität
In einem Text mit dem schönen Titel »›Nichts ist widerlicher als eine sogenannte Dichterlesung.‹ Deutsche Autorenlesungen zwischen Marketing und Selbstpräsentation« – das Zitat im Titel stammt aus Thomas Bernhards Alte Meister[20] – zeichnet Gunter E. Grimm die Historie der öffentlichen Lesung nach. Sehr zu Recht hält Grimm den Vorbehalten gegenüber Leseveranstaltungen entgegen, dass es die mündliche Präsentation literarischer Texte immer schon gegeben hat: angefangen bei den Gesängen der Rhapsoden über die Sänger und Epiker des Mittelalters über Lesungen in sogenannten Herrenclubs, Lesegesellschaften und bürgerlichen Salons im 17. und 18. Jahrhundert sowie dem öffentlichen Vorlesen bei den Weimarer Klassikern bis hin zu den ersten Lesereisen, beispielweise den Hof-Reisen Hans Christian Andersens oder den Rezitationstourneen von Charles Dickens.[21] Grimm zitiert aus den Blättern für literarische Unterhaltung von 1865:
Die Dichter dürfen in einer der Poesie nicht allzu holden Zeit [...] sich nach anderen Mitteln der Oeffentlichkeit umsehen, um die Theilnahme des Publikums zu erregen und wach zu halten. Das gedruckte Wort hat den unbegrenzten Kreis der Verbreitung voraus; aber das gesprochene Wort bleibt immer die lebendigste Vermittlung zwischen der schaffenden und aufnehmenden Phantasie.[22]
Gleich, in welchem historischen und sozialen Kontext, hat die laute Lektüre vor Gesellschaft stets andere Bedürfnisse erfüllt als die stille Lektüre. Die optische, akustische, haptische Präsenz eines Autors hebt die sinnlichen Dimensionen auch der Literatur selbst in den Vordergrund; der jeweilige Text wird auch körperlich erfahrbar in einem ganz anderen Maße als beim einsamen Lesen. Außerdem – das scheint mir auch im Bezug auf den gegenwärtigen Veranstaltungsbetrieb nicht genug betont werden zu können – unterstreicht die öffentliche Lesung die soziale Dimension von Literatur; die Lesung führt nicht nur Autoren und Leser, sondern eben auch Leser und Leser bzw. Hörer und Hörer in einem Raum zusammen und befördert die Unterhaltung über den gehörten Text.
Zu einem festen Bestandteil der literarischen Kultur seit Gutenberg, das bestätigt auch Grimm, ist die öffentliche Lesung dennoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg geworden. Die skeptischen Stimmen zur Literaturveranstaltung haben sich seither vermutlich proportional zum Anwachsen des Veranstaltungsbetriebs gemehrt; interessant ist m. E. aber weniger, die Legitimation oder Sinnhaftigkeit öffentlicher Lesungen grundsätzlich in Frage zu stellen, als nach den jeweiligen Umständen und Bedingtheiten zu forschen. Besonders beschäftigt mich hierbei die Überlegung, in welchem Verhältnis Literaturwissenschaft und -betrieb hier stehen. Wie erwähnt, wuchs der Literaturveranstaltungsbetrieb im deutschsprachigen Raum just in jenen Jahrzehnten so gewaltig, als in der literaturwissenschaftlichen Lehre und Forschung postrukturalistische und dekonstruktivistische Literaturtheorien dominierten, die eine prinzipielle Vorsicht im Umgang mit dem Autorbegriff empfahlen. Die Frage nach der Autorintention galt als fast blamabel und kaum etwas war in diesen Jahrzehnten so verpönt wie biografistisch zu arbeiten. Der Veranstaltungsbetrieb scheint, indem er die Autoren wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, den Literaturbegriff des Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus komplett zu konterkarieren, und vermutlich hätte Barthes tatsächlich keine große Freude an einem Literaturhaus gefunden. Aber ist die Rückbindung des Textes an den Autor im Veranstaltungsbetrieb zwingend so naiv und ungebrochen, wie es auf den ersten Blick scheint?
Das derzeit vorherrschende Veranstaltungsformat in Literaturhäusern wie auch bei Festivals – wenngleich dort häufig auch die ›reine‹ Lesung geboten wird – ist die moderierte Autorenlesung, d. h. die Lesung aus dem jeweiligen Text wird ergänzt durch einen oder mehrere Gesprächsblöcke meist mit einer Literaturkritikerin oder einem -wissenschaftler; normalerweise wird das Zweiergespräch gegen Ende des Abends für Fragen aus dem Publikum geöffnet. Was die Rezeption einer solchen Veranstaltung u. a. maßgeblich von der stillen Lektüre zuhause unterscheidet, ist also, den Verfasser des Textes zu sehen, zu hören etc., aber eben auch, ihn im Gespräch zu erleben. In der Unterhaltung mit Moderatorin und Publikum erweisen sich fast alle Autoren der Gegenwart als alles andere als naiv im Sprechen über ihren Text. Autoren sind selbstredend fast immer professionelle Leser, oft auch ihres Zeichens Literaturwissenschaftler, und an den wenigsten sind die literaturtheoretischen Debatten der letzten Jahrzehnte ganz spurlos vorbeigegangen. Noch weniger an denjenigen, die als Moderatoren engagiert werden; entsprechend gehört die Frage nach der Autorintention – wie haben Sie denn dies oder jenes gemeint? – sicher nicht zum Standardrepertoire eines Fragenkatalogs auf einer Lesebühne. Das wenn auch oft leicht gehaltene, aber professionelle Gespräch über Texte bietet im besten Fall dem im Publikum sitzenden Laienleser Anlässe, an Grundfragen des Verhältnisses von Text und Autor, Fiktion und Wirklichkeit etc. zu geraten.
Natürlich befördert (und befriedigt) der Veranstaltungsbetrieb das Interesse an den Personen hinter den Büchern; die Annahme, das leiste zwangsläufig platt biografistischen Lesarten der präsentierten Texte Vorschub, ist m. E. aber überzogen. Tom Kindt und Hans-Harald Müller weisen darauf hin, dass nicht jede Form der Bezugnahme auf die Biografie des Autors zwingend biografistisch sein muss, d. h. in eine unterkomplexe, theorieferne Eins-zu-eins-Setzung von Text und Leben münden muss.[23] Selbst Boris Tomašewskji – russischer Formalist und somit über jeden Verdacht erhaben, Vertreter eines naiven Biografismus zu sein –, gesteht ein, offensichtlich könne »die Frage nach der Biographie in der Geschichte der Literatur nicht in gleicher Weise für die ganze Literatur entschieden werden«,[24] d. h. auch, man kann die Biografie nicht konsequent immer aus der literaturwissenschaftlichen Forschung verbannen. Zwar beklagt Tomašewskji das immense Interesse seiner Zeitgenossen an Biographien und Briefwechseln; man habe »nicht die Literatur und ihre Geschichte« im Blick, »sondern den Autor als Menschen – und man kann noch froh sein, wenn es um den Autor geht und nicht um seine Brüder und Tanten.«[25] Aber dennoch zeichnet Tomašewskji in einem grobem Abriss am Beispiel der russischen Literatur nach, inwiefern die jeweilige Epoche diktiert, ob und inwiefern die Biografie des Autors eine Rolle spiele bei der Lektüre seiner Texte.[26] Entsprechend gebe es »Schriftsteller mit Biographie« und »Schriftsteller ohne Biographie«. Bei einem Schriftsteller mit Biographie sei auch in der Forschung,
die Berücksichtigung seiner Lebensfakten notwendig, weil die Gegenüberstellung der Texte und der Biographie dagegen des Autors wie auch das Spiel mit der potentiellen Realität seiner subjektiven Herzensergüsse und Bekenntnisse in seinen Werken eine konstruktive Rolle spielen.[27]
Auch die Herausgeber der Bände Rückkehr des Autors[28] und Texte zur Theorie der Autorschaft[29] betonen, Textlektüren setzten schließlich immer schon »bestimmte Auffassungen über den Autor voraus, die maßgeblich darüber bestimmen, auf welche Weise der Text interpretiert wird«.[30] Man muss die Häme nicht teilen, mit der die Herausgeber den Poststrukturalismus überziehen, um ihnen Recht zu geben, dass die literaturwissenschaftliche Diskussion um die Brauchbarkeit des Autorbegriffs keineswegs beendet, sondern die »Wiederaufnahme eines Verfahrens, das schon abgeschlossen schien«,[31] durchaus angebracht ist. An die Stelle sich stereotyp gegenüberstehender poststrukturalistischer und hermeneutischer Positionen sollte besser ein historisches Wissen um immer schon konfligierende Konzepte und die Gleichzeitigkeit konkurrierender Modelle treten und ein Bewusstsein für die vielfältigen Funktionen des Autors wachsen.
Dieser Aufgabenstellung zu entsprechen versucht der recht junge Forschungszweig zu Autor-Inszenierungen, innerhalb dessen vielfach auf Genettes Theorie der Paratexte zurückgegriffen wird.[32] Besonders brauchbar für die wissenschaftliche Erkundung des Veranstaltungsbetriebs scheint mir der in diesem Rahmen von Christine Künzel vorgeschlagene Rückgriff auf Foucaults – somit gewissermaßen vor der Schelte der Rückkehr-Herausgeber geretteten und rehabilitierten – Begriff der Autorfunktion.[33] Anders als Barthes hatte Foucault nie behauptet, der Autor existiere nicht; vielmehr hatte er darauf hingewiesen, dass nicht die empirische Person des Autors, sondern sein Name und die an diesen Namen geknüpften Funktion für den literarischen Diskurs relevant ist. Dirk Niemeyer schlägt nun vor, die Autorfunktion nicht allein auf der Diskursebene zu untersuchen und »sich im Akt der Semiose keineswegs nur auf die autorisierten Texte« zu beziehen,[34] sondern, so ließe sich ergänzen, auch gerade das öffentliche Auftreten eines Autors u. a. im Veranstaltungsbetrieb einzubeziehen. Kombiniere man Foucaults Theorem mit Bourdieus Habitustheorie, wie Niemeyer weiter empfiehlt,[35] könne man durchaus zu neuen, gerade in der gegenwärtigen Medienkultur relevanten Ergebnissen und Erkenntnissen über das, was Niemeyer »Autor-Label« nennt, gelangen.
Womit wir wiederum bei den je historischen Spezifika angekommen sind. »Seit der viel beredeten Krise des Buchmarkts«, schreiben Beilein, Stockinger und Winko in ihrem Band zur Literatur in der Wissensgesellschaft, »ist derzeit klarer denn je, dass Literatur unter Marktbedingungen stattfindet, dass Autorennamen Marken darstellen [...], dass also im Verbund vielfältiger Vermittlungsinstanzen Images kreiert werden müssen.«[36] Und bei der Kreation dieser Images spielt der Veranstaltungsbetrieb keine zu vernachlässigende Rolle. Wollen Autoren heute wahrgenommen werden, können sie sich selbigem kaum entziehen. Denn das öffentliche Lesen ist mittlerweile auch zu einer finanziellen Notwendigkeit für Autoren geworden. Wirklich nur die Bestsellerautoren können von den Buchverkäufen leben; alle anderen sind auf Stipendien, Preisgelder und eben auf die Einnahmen aus Leseveranstaltungen angewiesen. Entsprechend wagen es nur sehr wenige – im deutschsprachigen Raum ist der bekannteste Lesungsverweigerer Peter Handke, im englischsprachigen Thomas Pynchon –, sich nicht auf die Bühnen von Literaturhäusern und -festivals zu begeben.
Man erinnere sich noch einmal der Unterscheidung, die Tomašewskji getroffen hatte, in »Schriftsteller mit Biographie« und »Schriftsteller ohne Biographie«. Ausschlaggebend war dort die Frage, ob die Texte des jeweiligen Autors Bezug auf die eigene Biografie nehmen oder nicht. Im gegenwärtigen Literaturbetrieb ist es nicht die Literatur, die darüber entscheidet, ob die Verfasser derselben sich im Verborgenen halten oder nicht. Auch wenn sie Texte schreiben, die jeglicher biografischer Bezüge entbehren, nötigt der Betrieb sie, ihr Gesicht der Menge zu zeigen. Das ist nicht innerliterarisch, sondern institutionell, betriebsökonomisch bedingt. Diese Entmachtung birgt das Potenzial einer enormen Kränkung der Autorenschaft in sich, die auf Seiten der Schriftsteller durchaus einen immensen Überdruss und Widerstand gegen die Leseveranstaltung zeitigen kann, wie – um zum Ende hin einer ›Betroffenen‹ das Wort zu geben – beispielsweise in Monika Marons Essay »Der Schriftsteller als Wanderzirkus« nachzulesen:
Für die nächste Woche läuft über beide Seiten meines Kalenders ein diagonaler Strich, darüber das Wort Lesereise; Montag bis Freitag durchgestrichen wie ausgefallene Tage.
Ich verabscheue Lesereisen. Trotzdem werde ich fahren. Ich werde mit dem Veranstalter essen gehen, ich werde den gleichen Text lesen, den ich immer lese [...]. Ich werde nach der Lesung geduldig und zähneknirschend die immergleichen Fragen beantworten [...]. Später wird mir diskret das Honorar zugesteckt werden, wodurch mein seelisches Gleichgewicht für den Augenblick wieder hergestellt sein wird, denn dafür und nur dafür bin ich hergekommen. Am nächsten Morgen werde ich meine Zahnbürste einpacken, in den nächsten Ort, von dem ich bis dahin nie gehört habe, fahren, wo mir der nächste Veranstalter den Ring mit der Kette daran durch die Nase zieht, um mich dem nächsten Publikum wie einen Tanzbären vorzuführen, nach einem guten Essen selbstverständlich.[37]
Hermann Bahr hatte bereits 1909 Ähnliches notiert:
Ich war jetzt drei Wochen in Deutschland, als Vorleser »gastierend«, in Bayern und am Neckar und am Rhein und ich Sachsen und bis nach Hamburg hinauf. Anfangs kommt man sich da zuweilen recht wunderlich vor. Als sein eigener Hagenbeck sozusagen, sozusagen. Wirklich, man hat das Gefühl, zur Schau zu stehen, wie ein gefährliches fremdes Tier, von dem die Leute reden gehört haben und das sie nun neugierig sind einmal in der Nähe zu sehen; und fast wär’s oft nötig, sich eine Tafel umzuhängen, worauf steht, wie in den Museen: das Berühren der ausgestellten Gegenstände ist verboten.[38]
Anders aber als zu Marons war eine Lesereise zu Bahrs Zeiten eher noch ein Kuriosum, ein Wagnis, das man einmal einging, wenn es sich nicht bewährt hatte, aber nicht wiederholte. Der Literaturbetrieb der 1900er Jahre verlangte seinen Autoren den öffentlichen Auftritt nicht als eine Selbstverständlichkeit ab – ein Zustand, den Maron sich wieder herbeiwünscht:
Wenn allerdings eines Tages Autoren tatsächlich das Geld für ihre Arbeit bekämen wie Automechaniker, Zahnärzte, Busfahrer, Musiker und die meisten anderen Menschen (außer Politikern und Millionären), wenn sie sich nicht mehr als Schausteller verdingen müssten, um ihre eigentliche Arbeit zu finanzieren, dann, ach, dann würde ich nur noch vor Analphabeten und Blinden lesen und auf das Honorar verzichten.[39]
Dieses Kränkungspotenzial des Lesungsbetriebs scheint mir sein einzig wahrhaft heikler Aspekt zu sein. Veranstalter stehen zwangsläufig immer in der Gefahr, Autoren auf ihre Bühnen zu bitten, die diesen »Zirkus« eigentlich verabscheuen. Damit droht der Veranstaltungsbetrieb – als Teil des großen Getriebes der gesamten Literaturbranche – immer wieder, wenn auch ungewollt, die Beteiligten in Rollen zu drängen, die sie nur mehr spielen und nicht ausfüllen. Im Märchen vom Rumpelstilzchen, schreibt Felicitas Hoppe, entstehe ein dramatisches Beziehungsgeflecht, aus dem letztlich keiner mehr aussteigen kann:
Es geht um die Vortäuschung falscher Tatsachen und Gefühle: Der Müller spielt den sorgenden Vater, der in Wahrheit nur auf Prestige aus ist, die Tochter eine Schatzproduzentin, die in Wirklichkeit nichts vom Spinnen versteht, der König den liebenden Ehemann, der dahinter seine Goldgier versteckt.[40]
»Nur das Rumpelstilzchen«, resümiert sie, »die unwirklichste und fantastischste Figur in der Geschichte« und »die einzige, die wirklich im handwerklichen Sinn eine Kunst beherrscht, spielt keine Rolle, sondern ist, tatsächlich, mit seinem Wünschen und Handeln ganz bei sich.«[41] Dort, wo der Veranstaltungsbetrieb versagt, d. h. wo das ernsthafte Interesse an den Texten zurückgedrängt wird vom Pekuniären, wo aus Reklame also schlicht Werbung wird und wo kein Bemühen mehr zu erkennen ist, auch den Autoren selbst nicht nur eine Verdienstmöglichkeit, sondern interessante Abende mit anregenden Gesprächspartnern zu bieten, dort laufen wir Gefahr, aus Autoren samt und sonders Rumpelstilzchen zu machen – Gestalten, die sich lieber die Haare raufend im Wald verbergen als uns gern ihr Gesicht zu zeigen.
Anmerkungen
[1] Felicitas Hoppe, Sieben Schätze. Augsburger Vorlesungen, Frankfurt a. M. 2009, S. 62.
[2] Namentlich die österreichischen Rauriser Literaturtage (1971), die Solothurner Literaturtagein der Schweiz (1978) und das Erlanger Poetenfest (seit 1980).
[3] Die von Stephan Porombka und Kai Splittgerber im Auftrag des Netzwerks der Literaturhäuser erarbeitete und mittlerweile nachgebesserte »Studie zur Literaturvermittlung in den fünf neuen Bundesländern zu Beginn des 21. Jahrhunderts« gibt hierüber Auskunft. Nachzulesen ist sie unter: http://www.literaturhaus.net/projekte/projekt.htm?p=229, [15.01.2012].
[4] Thomas Wegmann, »Zwischen Gottesdienst und Rummelplatz: Das Literaturfestival als Teil der Eventkultur«, in: http://www.lesungslabor.de/html/modules.php?name=News&file=article&sid=16, 15.01.2012. Zuerst erschienen in: Erhard Schütz, Thomas Wegmann (Hg.), literatur.com. Tendenzen im Literaturmarketing, Berlin 2002, S. 121-136.
[5] http://www.literarisches-zentrum-goettingen.de/programm/fruehjahr-2011/hauptprogramm/literaturverteiler-lesebuehne, 15.01.2012.
[6] Wegmann, Gottesdienst (wie Anm. 4).
[7] Vgl. Gunter E. Grimm, »›Nichts ist widerlicher als eine sogenannte Dichterlesung.‹ Deutsche Autorenlesungen zwischen Marketing und Selbstpräsentation«, in: ders., Christian Schärf (Hg.), Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld 2008, S. 141-167. Grimm konstatiert dort, »dass es bis heute weder eine wissenschaftliche noch eine populäre Darstellung der Dichterlesung gibt [...].« (S. 143).
[8] Sonja Vandenrath, »Die bundesdeutschen Literaturhäuser«, in: dies., Private Förderung zeitgenössischer Literatur. Eine Bestandsaufnahme, Bielefeld: 2006, S. 169-200. Vgl. auch: dies., »Zwischen LitClubbing und Roundtable. Strategien von Literaturhäusern«, in: Erhard Schütz, Thomas Wegmann (Hrsg.), literatur.com. Tendenzen im Literaturmarketing, Berlin 2002, S. 172-188.
[9] In dem einschlägigen Kapitel ihrer Doktorarbeit (s. Anm. 8) zeigt Vandenrath – was in kulturpolitischer Hinsicht natürlich hochgradig spannend ist –, welche Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Modellen der Mischfinanzierung und der jeweiligen Programmarbeit der Literaturhäuser bestehen und wie unterschiedlich groß die Spielräume für konzeptionelle Arbeit sind. Anders als Mitte der 2000er, als Vandenraths Studie entstand, gilt heute als die große Gefahr, in der Literaturhäuser stehen, nicht mehr die, elitistische »Refugien innovationsresistenter Minderheitenprogramme« zu sein, als vielmehr die, zum verlängerten Arm der Marketingabteilungen der Verlage zu verkommen. Gerade bei den Häusern (Berlin-Charlottenburg, Hamburg und Frankfurt am Main), die in dem Ruf standen, wenig an Breitenwirksamkeit interessiert zu sein, hat sich das Profil in den letzten Jahren jeweils durch einen Leitungswechsel in die andere Richtung verändert.
[10] Vgl. z. B. Rainer Moritz, »Ein Forum für die Literatur«, in: Arnold, Heinz Ludwig, Matthias Beilein (Hg.), Literaturbetrieb in Deutschland, 3., völlig veränderte Auflage, Neufassung, München 2009, S. 123-129; Thomas Böhm, Auf kurze Distanz. Die Autorenlesung: O-Töne, Geschichte, Ideen, Köln 2003. (Moritz ist Leiter des Literaturhauses Hamburg, Böhm war Programmleiter des Literaturhauses Köln). Interessant sind diese Texte ohnehin v.a. als Dokumentationen eines institutionellen Selbstverständnisses. Auch der vorliegende Beitrag – das soll nicht verschwiegen werden – ist in genau jener Hinsicht von Befangenheit geprägt (ich leite das Literarische Zentrum in Göttingen) und sollte entsprechend mit der nötigen Skepsis gelesen werden.
[11] Den Ausschlag gaben Porombkas Invektiven gegen das traditionelle Veranstaltungsformat in diesem Interview: http://www.buchreport.de/nachrichten/verlage/verlage_nachricht/datum/0/0/0/hat-die-lesung-ausgedient-herr-porombka.htm, 21.01.2012; auf die Gegenrede Rainer Moritz, Leiter des Literaturhauses Hamburg (http://www.buchreport.de/nachrichten/buecher_autoren/buecher_autoren_nachricht/datum/2010/04/07/die-verteidigung-des-wasserglases.htm, 21.01.2012), reagierte Porombka, indem er seine Bemerkungen geringfügig relativierte: http://www.buchreport.de/nachrichten/buecher_autoren/buecher_autoren_nachricht/datum/2010/04/12/sturm-aufs-wasserglas.htm, 21.01.2012.
[12] Den immer noch besten Überblick über die Veränderungen in der Buchbranche liefern m.E. André Schiffrin und – für den deutschsprachigen Bereich – Klaus Wagenbach im Nachwort selbigen Buchs: André Schiffrin, Verlage ohne Verleger. Über die Zukunft der Bücher. Mit einem Nachwort von Klaus Wagenbach. Aus dem Amerikanischen von Gerd Burger. Berlin 2000.
[13] Vgl. Renate Grau, Ästhetisches Engineering. Zur Verbreitung von Belletristik im Literaturbetrieb, Bielefeld 2006.
[14] Sigrid Löffler, „Im Sog der Stromlinie“, in: Literaturen 1/2 (2008), S. 6-13, hier: S. 8.
[15] In den 1980ern, als sich das Lesungswesen erst auszubreiten begann, wurden diese Aufgaben – wie heute noch in kleinen Verlagen – nebenbei von einer Mitarbeiterin erledigt, die vornehmlich mit anderem, meist PR-Arbeiten, beschäftigt war. In der Zwischenzeit ist das Pensum an Lesungen jedoch so gewachsen – bei Suhrkamp beispielsweise von jährlich ca. dreihundert Mitte der 1980er auf ca. zweitausend Veranstaltungen Mitte der 2000er Jahre –, dass es der entsprechenden Personaldecke bedarf. – Ich danke Adrienne Schneider herzlich für die Informationen.
[16] Thomas Wegmann, Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850-2000, Göttingen 2011, S. 19.
[17] Den Doppelcharakter des Buches mache, so die Definition des Begriffs, die materiell definierte Differenz zwischen Text und Buch beziehungsweise zwischen geistigem Erzeugnis und Handelsware aus. Vgl. hierzu das Lemma Buch in Reclams Sachlexikon des Buches, S. 82-86.
[18] Vgl. Heinz Drügh, »Einleitung: Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, in: ders., Christian Metz, Björn Weyand (Hg.), Warenästhetik, Frankfurt a. M. 2011, S. 10f.
[19] Drügh, Warenästhetik, S. 20.
[20] Interessant sind ergänzend hierzu die Briefe Bernhards an seinen Verleger zu lesen, in denen er wieder und wieder beteuert, nur unter Androhung von Höchststrafe Lesungen abzuhalten. Vgl. Thomas Bernhard/Siegfried Unseld, Der Briefwechsel, hg. von Raimund Fellinger, Martin Huber und Julia Ketterer, Frankfurt a. M. 2009.
[21] Vgl. Grimm, Dichterlesung (Anm. 7), S. 143-146.
[22] Zitiert nach Grimm, Dichterlesung (Anm. 7), S. 147.
[23] Vgl. Tom Kindt, Hans-Harald Müller, »Was war eigentlich der Biographismus – und was ist aus ihm geworden?« in: Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2002, S. 355-375.
[24] Boris Tomašewskji, »Literatur und Biographie«, in: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 49-61, hier: S. 61.
[25] Tomašewskji, Literatur (Anm. 24), 49.
[26] Eine erste Hinwendung zur Autobiographie entdeckt er in der Romantik; im 18. Jahrhundert werde »der Autor zum Zeugen und lebendigen Teilnehmer seiner Romane, zum lebendigen Helden«; in der Mitte des 19. dagegen löse der »professionelle[ ] Dichter, de[r] Geschäftemacher, de[r] Journalist[ ]«, der keine Einblicke in sein Privatleben zulässt, den Dichter-Helden ab, wohingegen zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Interesse am Autor wieder erblühe: Der Symbolismus und in dessen Folge v.a. der Futurismus zögen die letzte Konsequenz aus der romantischen Hinwendung zur Autobiographie, indem der Autor sich selbst zum Helden seiner Bücher mache. Vgl. Tomašewskji, Literatur (Anm. 24), S. 54-60.)
[27] Tomašewskji, , Literatur (Anm. 24), S. 61.
[28] Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko (Hg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999.
[29] Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000.
[30] Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko, »Einleitung. Autor und Interpretation«, In: dies., Theorie der Autorschaft (Anm. 29), S. 7-29, hier: S. 24f.
[31] Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko, »Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Historische Modelle und systematische Perspektiven«, in: dies., Rückkehr (Anm. 28), S. 3-35, hier: S. 35.
[32] Vgl. Christine Künzel, Jörg Schönert (Hg.), Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg 2007; Gunter E. Grimm, Christian Schärf (Hg.), Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld 2008; Christoph Jürgensen, Gerhard Kaiser, (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, Heidelberg 2011.
[33] Vgl. Christine Künzel, »Einleitung«, in: dies., Schönert, Autorinszenierungen (Anm. 32), S. 9-23, hier: S. 10.
[34] Dirk Niemeyer, »Der Autor und sein Label«, in: Detering, Autorschaft (Anm. 23), S. 521-539, hier: S. 523f.
[35] Vgl. Niemeyer, Label (Anm. 34), S. 526.
[36] Matthias Beilein, Claudia Stockinger, Simone Winko, »Einleitung. Kanonbildung und Literaturvermittlung in der Wissensgesellschaft«, in: dies. (Hg.), Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft, Tübingen 2011, 1-15, hier: S. 11.
[37] Monika Maron, »Der Schriftsteller als Wanderzirkus«, in: dies., Nach Maßgabe meiner Begreifungskraft, Frankfurt a. M. 1995, S. 54-56, hier: S. 54f.
[38] Zitiert nach Severin Perrig, Stimmen, Slams und Schachtel-Bücher. Eine Geschichte des Vorlesens. Von der Rhapsoden bis zum Hörbuch, Bielefeld 2009, S. 118.
[39] Maron, Wanderzirkus (Anm. 37), S. 56.
[40] Hoppe, Schätze (Anm. 1), S. 62f.
[41] Hoppe, Schätze (Anm. 1), S. 63.
Vorabauszug mit freundlicher Genehmigung des Wilhelm Fink Verlags aus dem Buch Philipp Theisohn, Christine Weder (Hg.): Literaturbetrieb. Zur Poetik einer Produktionsgemeinschaft
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