TexturenWissenschaftskunde
Systematik der wissenschaftlichen Disziplinen in Hinblick auf deren Bedeutung für den Buchhandel
von Michael Buchmann
Es stand immer außer Frage, dass sich Buchhändler mit der Systematik wissenschaftlicher Disziplinen zu beschäftigen haben. Ausdrücklich wird dies seit 180 Jahren gefordert. Für Friedrich Christoph Perthes, den ersten Buchhändler im heutigen Sinne, waren grundlegende Wissenschaftskenntnisse selbstverständlich, weshalb er im Jahr 1833 über den Buchhändler schrieb: »Er wird, um angemessene Stellung in seinem Berufe zu gewinnen, nach allen Kräften sich bemühen, gründliche, wenn auch nur übersichtliche Kenntnis der Wissenschaft und Kunst und ihrer Literatur zu gewinnen – er muss suchen, die Zeit und ihre Richtungen klar aufzufassen – muss das Publikum in seiner Beweglichkeit unnachlässlich und scharf beobachten.« Die Formulierung »Stellung in seinem Berufe« darf man dabei durchaus auch als ›Marktstellung‹ interpretieren. Das Ziel der Beschäftigung eines Buchhändlers mit der Wissenschaft sollte also in einer besseren Position am Markt bestehen. Dann stellt sich die Frage, wie diese Kenntnisse der Wissenschaft einem Buchhändler zu einem Marktvorteil verhelfen. Und auch hier gibt Perthes eine scheinbar sehr moderne Antwort: durch seine Kenntnisse ist der gebildete Buchhändler viel näher an seiner Zielgruppe, deren Wünschen und den stetigen Veränderungen, denen diese Wünsche unterliegen.
Und noch einmal drei Jahre vor dem Aufsatz von Perthes schrieb Karl Büchner einen Aufsatz mit dem Titel Die Bildung des Buchhändlers, in dem er ebenfalls wie Perthes schlicht postuliert: »Der Buchhändler bedarf der Übersicht über eine Wissenschaft und ihre Zweige teils zur Verbreitung der neuen Bücher an die geeigneten Personen unter seinen Kunden, teils zum wissenschaftlichen Ordnen seines Lagers und zum Anfertigen der Kataloge. Dass diese Kenntniss nicht besonders gründlich zu sein brauche, versteht sich von selbst und deutet der Zweck an.« Interessant und keineswegs selbstverständlich ist in diesem Zitat der Hinweis, dass die »Übersicht über eine Wissenschaft und ihre Zweige« – also das, was hier als Systematik wissenschaftlicher Disziplinen bezeichnet wird – zunächst dazu dienen soll, dass der Buchhändler wissenschaftliche Novitäten den »geeigneten Personen unter seinen Kunden« empfehlen kann. Auch wenn viele Käufe von Fachbüchern Zielkäufe sind und die Kunden wissenschaftlicher Literatur in der Regel sehr gut über die Neuerscheinungen, sogar über Verlage und Verlagsprogramme informiert sind, kann der Buchhändler bei gründlichen Kenntnissen dennoch durch gezielte Empfehlungen nennenswerte Zusatzverkäufe generieren.
Das Zitat von Büchner muss man insoweit relativieren, als die von ihm erwähnten ›Kataloge‹ heute in Form von Datenbanken der MVB (Wirtschaftstochter des Börsenvereins) und der Barsortimente (Großhändler der Buchbranche) zur Verfügung gestellt werden und die dortige Zuordnung eines Titels zur Warengruppensystematik dem Buchhändler bereits eine erste Hilfestellung gibt. Allerdings ist es nicht ratsam, sich blind darauf zu verlassen. Denn auch die Warengruppensystematik setzt einige Kenntnisse voraus, möchte man sie mit Gewinn im Berufsalltag anwenden. Ein weiterer Grund für die Notwendigkeit der Kenntnis der Wissenschaftssystematik besteht nach Büchner darin, das Lager wissenschaftlich ordnen zu können. Setzt man diese Aussage mit der von Perthes über die Notwendigkeit der Nähe zur Zielgruppe in Zusammenhang, kommt man zu dem einfachen Schluss: je akademischer die Zielgruppe, desto wichtiger wird die Wissenschaftssystematik für die Lagerordnung. Einen Extremfall bildet hierbei eine Fachbuchhandlung. Hier besteht die Zielgruppe fast ausschließlich aus einschlägigen Wissenschaftlern oder Studierenden, weshalb man die Kenntnis der jeweiligen Wissenschaftsordnung nicht nur voraussetzen kann, sondern sie wird von der Zielgruppe als Lagerordnung geradezu erwartet und vorausgesetzt.
Beide einleitende Zitate weisen ausdrücklich darauf hin, dass die Kenntnisse der Wissenschaft für Buchhändler nur »übersichtlich« bzw. »nicht besonders gründlich« sein müssen. Positiv gewendet kann dies bedeuten: Die tägliche Arbeit und die konsequente Ausrichtung auf die Kundenwünsche sollte bestimmen, wie vertieft wissenschaftliche Kenntnisse sein müssen. Für einen Fachbuchhändler sind sie natürlich wesentlich wichtiger sind als für einen Boulevardbuchhändler. Nun sind mit diesen beiden Zitaten auch schon die entscheidenden Argumente dafür gefallen, warum sich alle Buchhändler mehr oder weniger – zumindest aber im Überblick – mit der Systematik wissenschaftlicher Disziplinen beschäftigen müssen:
Einteilung der wissenschaftlichen Disziplinen
»a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.«
Dieses Zitat könnte sowohl eine abstruse Ordnung der Zoologie abbilden als auch eine abstruse Lagerordnung einer Warengruppe ›Tiere‹. Tatsächlich stammt es aus einem Text des Schriftstellers Jorge Luis Borges, der seinerseits eine fiktive chinesische Enzyklopädie zitiert. Nachdem Borges weitere beliebige Aufzählungen angeführt hat, kommt er zu dem ernüchternden Schluss: »Bekanntlich existiert keine Klassifikation des Universums, die nicht willkürlich und mutmaßlich ist.«
Als Buchhändler muss man sich dadurch allerdings nicht irritieren lassen, denn hier geht es nicht darum, das Universum selbst zu klassifizieren oder die mehr oder weniger willkürlichen Versuche solcher Klassifikationen zu untersuchen oder zu beurteilen. Dies ist Aufgabe der Wissenschaft selbst. Allerdings kann man als Buchhändler aus dem Zitat lernen, dass man sich mit dem Verlust der Vorstellung, es gebe eine einzige unveränderliche Ordnung des Universums zugleich von der Voraussetzung verabschieden muss, es existiere eine einzige und unveränderliche Warengruppenordnung, die für alle Buchhandlungen, alle Zielgruppen und alle Zeiten gleichermaßen gelte. Man kann die Ordnung der eigenen Warengruppen also nicht an eine vermeintliche Ordnung des Universums anpassen; dafür kann man sich glücklicherweise unter anderem an einem viel konkreteren Bezugspunkt orientieren: nämlich der jeweils geltenden Systematik der wissenschaftlichen Disziplinen.
Aber wieder zurück zum Zitat von Borges: Warum erscheint diese Systematik nicht nur äußerst unschlüssig, sondern eher komisch? Die Antwort scheint zunächst einfach, denn es ist die offensichtliche Uneinheitlichkeit und damit die Sinnlosigkeit, die komisch wirkt. Fragt man allerdings genauer nach, worin diese Uneinheitlichkeit denn genau besteht, stößt man zum Problem der Klassifizierung selbst vor. Denn genauso wie der fiktive chinesische Enzyklopädist vor der Aufgabe steht, die Menge der Tiere zur besseren Unterscheidung bestimmter Teilmengen zuzuordnen, steht der Wissenschaftler vor dem Problem, seine Untersuchungsgegenstände zu ordnen und der Buchhändler vor dem Problem, seine Ware ihrem Inhalt nach in einer für die Kunden möglichst einsichtigen Ordnung zu gruppieren.
Dabei hat der chinesische Enzyklopädist seine Aufgabe denkbar schlecht gelöst: erstens gibt es Rubriken ohne Aussagekraft wie »h) in diese Gruppierung gehörige« oder »l) und so weiter«, in die man alle oder genauso gut auch keine Tiere einordnen könnte. Positiv ausgedrückt: eine gut gestaltete Rubrik muss eine sprechende Bezeichnung haben und für den jeweiligen Zweck relevant sein. Die anderen Rubriken bzw. Kategorien sind so gewählt, dass manche Tiere gleich mehreren oder auch gar keiner zugeordnet werden können, das heißt, die Rubrizierung bzw. Kategorisierung ist nicht kohärent (in sich schlüssig). Zum Beispiel die Kategorie »a) Tiere, die dem Kaiser gehören«: Hier ist das Ordnungskriterium das des Besitzes. Damit die Ordnung kohärent wäre – ob sie sinnvoll ist sei zunächst dahingestellt – müsste nun das einzige Ordnungskriterium auf der ersten Ordnungsebene das des Besitzes sein. Also etwa ›b) Tiere, die den Beamten gehören, c) den Angestellten, d) den Arbeitern, e) niemandem‹ usw. Stattdessen findet sich mit der Kategorie »b) einbalsamierte Tiere« ein weiteres Ordnungskriterium, nämlich das des Konservierungszustandes. Eine Ordnungsebene darf aber nur ein Ordnungskriterium aufweisen. Nur wenn man alle Gegenstände zuerst nach diesem Kriterium anordnet, kann man gewährleisten, dass ein Gegenstand nur einer Kategorie zugeordnet wird. Natürlich kann man in einem zweiten Schritt auf einer zweiten Ordnungsebene dann nach einem weiteren Kriterium genauer sortieren. Welche Kriterien jeweils zu wählen sind, bestimmt die Relevanz. Andere Kriterien der zitierten Enzyklopädie erscheinen deshalb komisch, weil sie völlig irrelevant sind, wie beispielsweise »n) die von weitem wie Fliegen aussehen«: in diese Kategorie werden erstens nur sehr wenig Tiere fallen, zweitens ist es ein subjektives Kriterium, das einzig und allein vom Empfinden des jeweiligen Betrachters abhängt und drittens sagt dieses Kriterium so wenig über die Tiere selbst aus und ist somit völlig unbrauchbar: sowohl für die Wissenschaft als auch den Buchhandel.
Warum diese ausführliche Schilderung der verunglückten Ordnung einer fiktiven Enzyklopädie und die Darstellung der korrekten Vorgehensweise zur Erstellung einer Systematik, die dabei missachtet wurde? Weil durch die Untersuchung des Ausschnitts aus der Enzyklopädie bereits die entscheidenden Stichworte gefallen sind: die Kategorien einer Systematik müssen nach Relevanz und Aussagekraft gebildet werden, die verschiedenen Gegenstände einer Ordnungsebene müssen jeweils nach einem eindeutigen Kriterium angeordnet werden. Damit sind nicht nur die wichtigsten Faktoren für die Beschreibung einer Warengruppensystematik genannt. Denn diese Vorgehensweise sollte dem Aufbau einer schlüssigen, kundenfreundlichen und handhabbaren Warengruppe zu Grunde liegen. Eine Warengruppensystematik kann sich an Faktoren wie der Zielgruppe, den ladenbaulichen Verhältnissen, der inhaltlichen Ordnung der jeweiligen Warengruppe und vielem mehr orientieren und muss sich dabei stets entscheiden, welches dieser Kriterien sie jeweils über das andere stellt.
[...]
Die im letzten Absatz genannten Prinzipien bestimmen auch wissenschaftliche Systematiken. Um in der obigen Begrifflichkeit zu bleiben, kann man sagen: Das erste Ordnungskriterium der Systematik wissenschaftlicher Disziplinen besteht darin, welcher Art von Gegenstand sich die einzelnen Disziplinen widmen. Denn jede wissenschaftliche Disziplin hat einen möglichst exakt festzulegenden Gegenstandsbereich. Dabei darf der Begriff ›Gegenstand‹ nicht in seinem umgangssprachlichen Sinn als etwas materiell Greifbares und Unbelebtes missverstanden werden. Er meint in der Wissenschaftstheorie so viel wie ›dasjenige, auf das man sich bezieht‹. Gegenstand einer Wissenschaft kann daher genauso gut etwas Materielles und Belebtes sein wie die oben angeführten Tiere als Gegenstand der Zoologie, aber auch etwas gänzlich Immaterielles wie ein philosophisches System. Die weiter unten folgende Auflistung nennt stichwortartig die Gegenstände der häufigsten Disziplinen, ausführlich werden sie in den folgenden entsprechenden Kapiteln dargestellt.
Nun zu der konkreten Einteilung der wissenschaftlichen Disziplinen: Gemeinhin teilt man die Wissenschaften nach der Art ihrer Gegenstände zunächst in drei Gruppen ein. Eine dieser Gruppen ist die der Formalwissenschaften, gelegentlich auch als Idealwissenschaften bezeichnet. Dazu zählt man vor allem die Logik, Mathematik und Wissenschaftstheorie, gelegentlich auch die Systemtheorie, die Kybernetik usw. Den genannten Disziplinen ist gemeinsam, dass ihre Gegenstände aus rein formalen, abstrakten Strukturen bestehen. So gibt es für die Schlussregeln der Logik in der realen Welt keine Entsprechung – auch wenn man mit Hilfe der Logik sehr wohl Aussagen über die Realität treffen kann.
Den Formalwissenschaften stehen alle anderen Wissenschaften als Realwissenschaften gegenüber. Das sind Wissenschaften, deren Gegenstand in Realien, also existierenden Dingen besteht. Neben den später aufgeführten Geistes- und Sozialwissenschaften sind in erster Linie die Naturwissenschaften Realwissenschaften, denn ihr Gegenstand ist die ›Natur‹ und deren Gesetzlichkeit. Diese Beschreibung ist nicht sehr genau und vor allem deshalb problematisch, weil der Naturbegriff sehr weit gefasst ist und ständigen Wandlungen in seiner Bedeutung unterliegt. Zu verschiedenen Zeiten und auch in verschiedenen Disziplinen versteht man etwas völlig anderes unter Natur. Deshalb gibt es den Versuch, die Naturwissenschaften über ihr Vorgehen, mit dem sie sich ihrem Gegenstand nähern, zu bestimmen. Genannt wird in diesem Zusammenhang häufig der Grad der Mathematisierung, also wie viel Mathematik bei der Beweisführung hinzugezogen wird, oder auch der Grad an Experimentalwissenschaftlichkeit, also welchen Anteil Experimente an der Erkenntnisgewinnung haben. Beide Merkmale treffen allerdings nur auf einen Teil der Naturwissenschaften zu und sind deshalb weder notwendige noch hinreichende Merkmale.
[…]
Die Geisteswissenschaften lassen sich negativ durch ihre Abgrenzung zu den Naturwissenschaften definieren. Im englischen Sprachgebrauch wird dies noch deutlicher. Dort nennt man die Naturwissenschaften ›Sciences‹ und die Geisteswissenschaften ›Humanities‹. Mit dem Begriff ›humanities‹ ist auch bereits das wichtigste Stichwort zu einer positiven Definition der Geisteswissenschaften gefallen: Man kann sie als diejenigen wissenschaftlichen Disziplinen beschreiben, deren Gegenstand die Welt des ›Menschen‹ darstellen, also Sprache, Sitten, Institutionen, Kunstwerke, Philosophie, Religion und die Lebensordnungen und Kultur überhaupt.
[…]
Sozialwissenschaft ist ein Sammelbegriff für all diejenigen Disziplinen, die sich vorrangig mit der Gesellschaft als solcher, dem Verhältnis zwischen den Individuen zur Gesellschaft und dem Verhältnis der Individuen untereinander, also deren Interaktionen beschäftigen.
[…]
Neben dieser Vierteilung muss noch auf den Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Technik eingegangen werden. Während Technik zunächst lediglich die zweckrationale Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf konkrete Probleme bedeutet, wird der Begriff häufig im Sinne einer Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auf Bereiche wie Maschinenbau, Elektrotechnik, Computerwissenschaft usw. verkürzt. Technik meint hier also so viel bzw. so wenig wie die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Grundlagenforschung auf konkrete mechanische Probleme.
Jede der wissenschaftlichen Disziplinen kann ihren Gegenstand bzw. Gegenstandsbereich auf zwei verschiedene Weisen betrachten: entweder synchron (in seinem Zustand zu einer bestimmten Zeit) oder aber diachron (dessen historische Entwicklung betrachtend). Hierzu ein Beispiel: die Sprachwissenschaft kann eine Sprache untersuchen, die in einer bestimmten Zeit gesprochen wurde, zum Beispiel das Mittelhochdeutsche im 14. Jahrhundert. Dadurch schafft diese wissenschaftliche Untersuchung eine Momentaufnahme einer bestimmten genau festgelegten Zeit. Die Sprachwissenschaft kann aber ihren Gegenstand der Sprache auch historisch darstellen, zum Beispiel die Lautverschiebungen, die sich über sehr lange Zeit erstrecken.
Eine weitere Unterscheidung der Herangehensweise an den Gegenstand ist noch die zwischen einer systematischen und historischen Betrachtungsweise. Historisch betrachten kann man einen Gegenstand insofern, als man ihn in der Zeit seiner Entstehung belässt. Systematisch betrachtet man ihn, wenn man eine These oder Theorie ungeachtet ihrer geschichtlichen Hintergründe einfach als solche betrachtet. Man kann also die Ethik Kants systematisch betrachten und losgelöst von ihrem historischen Hintergrund kritisieren oder auch für die eigene Argumentation im aktuellen Diskurs verwenden. Man hat aber auch die Möglichkeit, die Position Kants vor dem Hintergrund der europäischen Aufklärung zu verstehen und zu erklären.
Die Prinzipien der Wissenschaft Aber was ist denn Wissenschaft überhaupt? – Wissenschaft ist zunächst das Bemühen um gesicherte Erkenntnisse. Wissenschaft bezeichnet aber auch die wissenschaftliche Tätigkeit, die sich ihrerseits in Forschung und Lehre trennen lässt. Forschung ist die wissenschaftliche Gewinnung von Erkenntnissen. Wissenschaftler forschen an Universitäten und Hochschulen, aber auch für Industriebetriebe. Während an Universitäten und Hochschulen überwiegend Grundlagenforschung, also zunächst zweckfreie und nur auf die Mehrung von Erkenntnissen gerichtete Forschung betrieben wird, geht es in der Industrie um Angewandte Forschung. Dort gilt es, konkrete Probleme zu lösen oder um in Form von Patenten wirtschaftlich verwertbare Entdeckungen zu machen.
Die Lehre besteht in der Vermittlung der durch die Forschung gewonnenen Erkenntnisse an die Studierenden und die Anleitung der Studierenden zum Erwerb bestimmter Fähigkeiten. Neben wissenschaftlichen spielen hierbei auch didaktische (unterrichtstechnische) Faktoren eine Rolle. Weil Wilhelm von Humboldt in seiner Eigenschaft als Mitarbeiter des preußischen Innenministeriums für die Einheit von Forschung und Lehre an Universitäten und Hochschulen plädierte, wird das Ideal dieser Einheit auch Humboldtsches Bildungsideal genannt. Es prägt bis heute weitgehend die deutsche Hochschullandschaft.
Ein weiteres wichtiges Merkmal ist bereits genannt worden: Wissenschaften haben einen Gegenstand bzw. Gegenstandsbereich, den sie analysieren und erklären möchten. Die Buchwissenschaft beispielsweise hat nicht nur das gedruckte Buch zum Gegenstand, sondern auch buchaffine Inhalte der Neuen Medien. Ein Gegenstand kann wissenschaftlich nur dann untersucht werden, wenn man sich an bestimmte Methoden, an etablierte Kriterien erfüllende Vorgehensweisen hält. Dazu später mehr.
Wissenschaftliche Arbeit findet außerdem stets im Rahmen eines Wissenschaftsbetriebs statt. Wissenschaftler werden von Universitäten, Instituten usw. bezahlt, sie müssen sich deshalb auch an gewisse Vorgaben, auch verwaltungstechnischer Art halten. Was für Buchhändler dabei am Wichtigsten ist, ist die wissenschaftliche Betriebsamkeit in Form von Publikationen, also Fachzeitschriften und Fachbüchern. Die Forschungsgemeinschaft tauscht sich darüber hinaus bei einschlägigen Kongressen aus, stellt neue Erkenntnisse zur Diskussion und knüpft dort Kontakte.
Wahrheitssuche, Wertneutralität, Transparenz, Objektivität, Relevanz und Innovation Ob Methodik, Betrieb oder Diskurs: Wissenschaftler fühlen sich in ihrer Arbeit und ihrem Selbstverständnis bestimmten Prinzipien im Sinne von ›Grundregeln‹ verpflichtet. Das immer stärker in die Kritik geratende, aber immer noch prominenteste Prinzip ist das der Wissenschaft als Wahrheitssuche. Ein weiteres Prinzip ist die Bewahrung von Wertneutralität bzw. Wertfreiheit. Wissenschaft darf sich nicht politischen, religiösen oder kulturellen Vorstellungen unterwerfen, hat sich vielmehr an Fakten zu orientieren und darf auch selbst keine Werturteile abgeben. Sie muss ihr eigenes Vorgehen, ihre Grundlagen usw. offenlegen, also größtmögliche Transparenz sicherstellen. Denn die anderen Forscher müssen nachprüfen können, wie und mit Hilfe welcher Mittel gearbeitet wurde und wie die jeweiligen Erkenntnisse zu Stande gekommen sind. Diese Transparenz wird bei konkreten wissenschaftlichen Texten unter anderem durch die erläuternden Fußnoten und den Literaturnachweisen augenfällig. Man könnte die bis jetzt vorgestellten Prinzipien unter dem landläufigen Begriff der Objektivität zusammenfassen, steht er doch gerade im umgangssprachlichen Gebrauch wie kein anderer für eine wissenschaftliche Grundhaltung, wenn nicht für die Wissenschaft überhaupt. Man verwendet ihn dabei im Sinn von sachgemäß und tatsachenorientiert und denkt ihn im Gegensatz zu subjektiven Werturteilen. Seiner problematischen Implikationen wegen wird der Begriff in der Wissenschaftstheorie aber weit seltener als in der Umgangssprache verwendet.
Ein weiteres Prinzip betrifft das Erkenntnisinteresse wissenschaftlichen Vorgehens. Eine wissenschaftliche Untersuchung sollte ihre Relevanz nachweisen können; sie sollte von Nutzen sein. Wobei Nutzen hier nicht nur im Sinne von konkreter Anwendung im Alltag zu verstehen ist, sondern vor allem im Sinne von Nützlichkeit für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess. Die Stellung der wissenschaftlichen Erkenntnisse innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft aber auch innerhalb der Gesellschaft sollte den Aufwand für die Erlangung der Erkenntnisse rechtfertigen.
Ein fünftes Prinzip, das mit dem der Relevanz eng zusammen hängt, ist das der Innovation. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden nur dann als relevant angesehen, wenn sie nachweisen können, dass sie etwas Neues sagen oder etwas auf eine neue Art und Weise sagen. Die eigentliche Leistung der Forschung besteht darin, neue Erkenntnisse zu beschaffen oder zumindest bereits Bekanntes neu zu interpretieren. Reine Kompilationen (Zusammenstellungen von bereits Bekanntem) bieten nur eine Arbeitserleichterung und einen schnellen Überblick über ein Forschungsgebiet, aber darüber hinaus keinerlei Mehrwert. Wissenschaftliche Texte, insbesondere Dissertationen und Habilitationen, stellen in der Regel im ersten Kapitel den gegenwärtigen Forschungsstand vor. Dies ist dem Prinzip der Transparenz geschuldet, damit man nachprüfen kann, welche Literatur der Autor verwendet und auf welche Texte er sich bei seiner Arbeit gestützt hat. Darauf folgt die dem Prinzip der Innovation geschuldete Begründung, warum die jeweils eigene Problemstellung überhaupt noch nicht oder zumindest noch nicht in der jeweiligen Art und Weise gestellt wurde und somit ein Desiderat (Mangel) vorliegt. Ein bekanntes Beispiel aus der Wissenschaftsgeschichte: Im Jahr 1899 erschien, auf das Jahr 1900 vordatiert, Freuds Traumdeutung. Die ersten einhundert Seiten bestehen ausschließlich darin, die damalige Forschungslage zu referieren, von der antiken Auffassung des Traums als Göttersendung bis hin zu den damals aktuellen Theorien vom Traum als freie Entfaltung der Geistestätigkeit. Freilich nutzt Freud diese einhundert Seiten starke Darstellung dazu, um von vornherein klarzustellen, dass »das wissenschaftliche Verständnis des Traumes sehr wenig weit gediehen« ist. Was seine eigene Theorie dadurch umso revolutionärer erscheinen lassen musste.
Methoden der Wissenschaft Die Forderung nach Transparenz und Nachprüfbarkeit liegt dem gesamten wissenschaftlichen Vorgehen zu Grunde. Man kann nicht beliebig drauflos experimentieren, messen oder interpretieren, denn wissenschaftliche Forschung und wissenschaftliche Erkenntnisse sind nur durch ein exakt definiertes und reflektiertes Vorgehen möglich, durch die so genannten Methoden. Methoden erfüllen gleich zwei Funktionen. Erstens legen sie die Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens fest, und zweitens ermöglichen sie, dass man durch die Nennung und Darstellung der jeweiligen Methode zu Beginn einer wissenschaftlichen Darstellung genau nachvollziehen kann, wie die präsentierten Ergebnisse zu Stande gekommen sind.
Der Begriff der ›Methode‹ bedeutet dabei zunächst nichts weiter als schlicht ›planmäßiges Vorgehen‹. Allerdings haben sich im Laufe der Zeit in den verschiedenen Disziplinen viele verschiedene Vorgehensweisen als sinnvoll und zweckmäßig herausgebildet; selbst innerhalb einer Disziplin kann es verschiedene anerkannte Methoden geben, weshalb man in diesem Fall von Methodenpluralismus spricht. Welche Methode man wählt, hängt dann einerseits von der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin und andererseits von der jeweiligen Problemstellung bzw. dem Gegenstand ab. Wichtig ist vor allen: man wählt eine anerkannte und passende Methode, nennt diese ausdrücklich, begründet seine Wahl genau und wendet sie dann konsequent an.
Analytisches Instrumentarium Unabhängig davon, welche Methode tatsächlich und im Einzelnen zum Einsatz kommt, gibt es grundlegende Instrumente der Rationalität, die wiederum jeder Methode zu Grunde liegen. Das mit Abstand wichtigste dieser Instrumentarien ist das der Logik. Jede einzige wissenschaftliche Aussage muss den Regeln der Logik entsprechen. Aussagen, egal welcher Art und in welchem Kontext stehend, müssen widerspruchsfrei sein, und Schlüsse, die aus verschiedenen Aussagen gezogen werden, müssen den Gesetzen der Logik entsprechen.
Das Paradebeispiel für einen logischen Schluss stammt aus der Antike. Gesetzt sind die beiden Prämissen »Alle Menschen sind sterblich« und »Sokrates ist ein Mensch«. Aus diesen Prämissen folgt zwingend der Schluss »Sokrates ist sterblich«. Ein anderer Schluss wäre nicht logisch und auch nicht wissenschaftlich. Ein Gegenbeispiel für einen in sich widersprüchlichen Satz ist: »Ein Kreter sagt: Alle Kreter lügen.« Mit der Logik und den Regeln vom korrekten Ziehen von Schlüssen ist das Thema der Argumentation eng verbunden. Wenn man argumentiert, möchte man seine Gegenüber von der Wahrheit des Dargestellten überzeugen. Diese Wahrheit versucht man im Rahmen einer Argumentation auf zweierlei zu gründen: einmal darauf, dass die Voraussetzungen von denen man ausgeht, die bereits erwähnten Prämissen, wahr sind und einmal darauf, dass man logisch korrekt aus diesen Prämissen geschlossen hat. Ein Beispiel: Man könnte von der Wahrheit der Prämissen »Alle Elefanten sind grün« und »Sokrates ist ein Elefant« ausgehen. Daraus könnte man den Schluss »Sokrates ist grün« ziehen. Natürlich sagt bereits der gesunde Menschenverstand, dass dieses Argument falsch sein muss. Aber warum? Ein Argument kann man auf zweierlei Art und Weise kritisieren: man kann die Wahrheit der Prämissen oder die Korrektheit des Schlusses in Frage stellen. Im vorliegenden Beispiel ist die Konklusion, also die Folgerung aus den Prämissen, absolut korrekt. Was falsch ist, sind die Prämissen.
Kritisiert man die Konklusion eines Arguments, handelt es sich um eine immanente Kritik (innere Kritik), weil man die Geltung der Voraussetzungen einer Argumentation anerkennt und versucht, die Unschlüssigkeit des Schlusses nachzuweisen. Kritisiert man bereits die Voraussetzungen einer Argumentation, handelt es sich nicht mehr um eine innere Kritik, sondern eine Kritik von einem anderen Standpunkt aus. Bei einer ganzen Argumentationskette stützt sich ein Argument auf das andere. Stünde obiges Beispiel am Anfang einer Argumentationskette und die weiteren Argumente bezögen sich darauf, wären wie beim Domino alle darauf folgenden Argumente ebenfalls hinfällig. Wissenschaftliche Texte bestehen in der Regel genau aus solchen Argumentationsketten, bei denen ein Argument auf das andere folgt.
Wissenschaftssprache Neben den Methoden und dem analytisches Instrumentarium ist die Sprache von ganz entscheidender Bedeutung. Mit ihrer Hilfe kommen die meisten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Stande und sie werden fast alle mit Hilfe der Sprache formuliert und verbreitet und bilden so überhaupt erst die materielle Grundlage für den Handel mit wissenschaftlichen Texten. Das Bewusstsein, dass die Beschaffenheit der Sprache dadurch ihrerseits wesentlichen Einfluss auch auf die Beschaffenheit wissenschaftlicher Erkenntnisse hat, hat sich mittlerweile durchgesetzt – das Bewusstsein davon, dass auch die Buchbranche einen gewissen Einfluss auf die wissenschaftliche Tätigkeit ausübt, noch nicht.
Doch zunächst muss man genau differenzieren, denn Sprache ist nicht gleich Sprache. Nutzt man die Sprache, um Beobachtungen festzuhalten und zu formulieren, nennt man dies die Beobachtungssprache bzw. die Aussagen Protokollsätze. Ein Protokollsatz wäre zum Beispiel »Person XY hat am Soundsovielten um Soundsoviel Uhr Z wahrgenommen.« Ein weiterer wichtiger Begriff ist der der Metasprache. Die Metasprache unterscheidet sich von den Wörtern, der Grammatik usw. überhaupt nicht von der Wissenschaftssprache. Man muss sich dies vielmehr durch ein Ebenenmodell veranschaulichen: die unterste Ebene bildet die Beobachtungssprache, die Objektsprache. Wird diese Objektsprache selbst zum Gegenstand gemacht, wechselt man sozusagen auf die nächsthöhere Ebene und spricht in einer Metasprache über die Objektsprache, wie zum Beispiel: »Ein Protokollsatz wäre zum Beispiel ›Person XY hat am Soundsovielten um Soundsoviel Uhr Z wahrgenommen.‹« Macht man wiederum die Metasprache zum Gegenstand, kann man über sie nur in einer Meta-Meta-Sprache sprechen. Diese Unterscheidung mag auf den ersten Blick sophistisch erscheinen, ist aber für die Argumentation von entscheidender Bedeutung. Denn nur so lassen sich Probleme wie das oben zitierte Paradoxon des Kreters lösen, der behauptet, dass alle Kreter lügen. Denn wenn man schreibt »Ein Kreter sagt: ›Alle Kreter lügen.‹« erkennt man bereits an den Anführungszeichen, dass hier zwei Ebenen vermischt sind, von denen die eine durchaus wahr, die andere jedoch falsch sein kann.
In diesem Kapitel war häufig die Rede von einzelnen wissenschaftlichen Aussagen. Eine übergeordnetes sprachliches wissenschaftliches Gebilde, das nicht nur Aussagen über Einzelfälle trifft, sondern einen ganzen Teilbereich einer wissenschaftlichen Disziplin beschreibt und erklärt, nennt man eine Theorie. Solche Theorien sind extrem komplex und vielschichtig; je nach Disziplin und je nach Theorie umfassen sie dabei mindestens einige, manchmal auch alle der im Folgenden dargestellten Bestandteile.
›Bausteine‹ von Theorien
Sind nun Thesen oder gar Theorien mit den dargestellten Instrumentarien konstruiert worden, werden sie von Kollegen und Konkurrenten aufmerksam gelesen – und bestätigt oder kritisiert. Dafür stehen zwei grundlegende Herangehensweisen zur Verfügung. Denn wissenschaftliche Aussagen und Theorien kann man entweder falsifizieren (durch ein stichhaltiges und bestimmte Bedingungen erfüllendes Gegenbeispiel widerlegen) oder verifizieren (einer Geltungsprüfung unterziehen und bestätigen). Wissenschaftliche Aussagen müssen stets verifizierbar oder falsifizierbar sein, um als wissenschaftlich gelten zu können. Zur Verdeutlichung: Eine Aussage wie »Das Nichts nichtet.« lässt sich nicht überprüfen.
Grundhaltungen wissenschaftlichen Vorgehens Hier nun einige prominente Grundhaltungen, die Wissenschaftler ihrem Vorgehen gegenüber einnehmen können. Der Rationalismus gibt dem verstandesmäßigen Erfassen den Vorzug vor allen anderen möglichen Erkenntnisquellen. Das Paradebeispiel hierfür sind die philosophischen Systeme des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Rationalismus nimmt sich vor allem die Mathematik zum Vorbild. Es verwundert daher nicht, dass die Methoden der Formalwissenschaften insgesamt dem Rationalismus nahe stehen. Sein Gegenstück bildet der Empirismus, für den die Erfahrung in Form von Experimenten, Beobachtungen und sinnlicher Erfahrung überhaupt die vorrangige Art und Weise darstellt, zu gesichertem Wissen zu gelangen. Daher gründen vor allem die Methoden der Natur- und Sozialwissenschaften auf dem Empirismus, da man hier mit Experimenten, statistischen Erhebungen usw. arbeitet.
Der Relativismus grenzt sich von diesen beiden Positionen insofern ab, als es für ihn in dieser Form kein absolut gesichertes Wissen geben kann. Er geht stattdessen davon aus, dass das wissenschaftliche Wissen auch auf irrationalen Voraussetzungen und Festsetzungen wie Weltanschauungen, politischen Einstellungen usw. beruht. Es kann daher nicht als absolut wahr angesehen werden, sondern lediglich in Relation zu den genannten Voraussetzungen. Einen ähnlich kritischen Impetus wie der Relativismus weist auch der Konstruktivismus auf, der von der Annahme ausgeht, dass die Wissenschaft ihren Gegenstand konstruiert, also erzeugt.
Wandel in der Wissenschaft Der Wissensstand der verschiedenen Disziplinen ändert sich unaufhörlich. Wegen dieses Wandels muss man genau zwischen der aktuellen und der historischen Wissenschaft unterscheiden. Auch im Buchhandel schlägt sich das Selbstverständnis der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen und ihre Art und Weise, mit der eigenen Wissenschaftsgeschichte umzugehen, nieder. Denn es gibt durchaus deutlich konträre Interpretationsweisen dieser Veränderung, die man gemeinhin vereinfachend als Fortschritt bezeichnet.
Die Naturwissenschaften und die technischen Disziplinen interpretieren den Fortschritt ihrer Disziplinen überwiegend als substitutiven Fortschritt. Man geht davon aus, das neu erworbene Wissen könne das ältere umstandslos ersetzen. Man unterstellt, dass die neu gewonnenen Erkenntnisse bis dahin nicht gelöste Probleme lösen, und insofern könne das neue Wissen das ältere ohne weiteres ersetzen. Gibt es also zu einem bestimmten gestellten Problem eine erklärungskräftigere Lösung, wird die frühere daher als veraltet und damit überflüssig betrachtet. Somit finden sich in den Warengruppen der naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen selten Titel, die älter als zwei Jahre sind und erfolgreiche Titel bzw. Standardwerke erscheinen in sich sehr schnell ablösenden Neuauflagen. Eine der wichtigsten Aufgaben eines Buchhändlers besteht also darin, stets darauf zu achten nur die aktuellen Auflagen zu führen.
Die Geistes- und Sozialwissenschaften pflegen dagegen überwiegend das Verständnis eines kumulativen Fortschritts. Hier werden die neu hinzugewonnenen Erkenntnisse nicht so betrachtet, als ersetzten sie die früheren, sondern sie werden als auf den früheren aufbauend und diese ergänzend betrachtet. Selbst wenn bestimmte Theorien und Methoden von der geisteswissenschaftlichen Forschung nicht mehr verwendet werden, können sie zum Gegenstand des wissenschaftsgeschichtlichen Interesses werden. Man pflegt in diesen Disziplinen eine sozusagen genealogische Sichtweise: die Beschaffenheit des Wissens kann nicht ohne die Kenntnis über dessen Entstehen verstanden werden. Man kann so zum Beispiel die derzeitige Psychoanalyse nicht ohne die Kenntnis der Texte Freuds verstehen, auch wenn die dort formulierten Thesen und daraus abgeleiteten Verfahren nicht mehr eins zu eins angewendet werden. Eine solche Auffassung des kumulativen Fortschritts führt zwangsläufig dazu, dass der Gegenstand der Geisteswissenschaften im Allgemeinen und der der historischen Disziplinen im Besonderen stetig wächst. Im Buchhandel macht sich dies dadurch bemerkbar, dass der Anteil an historischen Texten vor allem in den geisteswissenschaftlichen Warengruppen ungleich höher ist als in den naturwissenschaftlichen oder technischen. In der Philosophie beispielsweise sind viele kanonisierte (grundlegend anerkannte Texte) hunderte und sogar tausende Jahre alt. Das bedeutet nicht, dass man über deren Kenntnisse nicht hinaus gekommen sei oder deren Thesen unbesehen übernähme; vielmehr muss man diese Texte zur Kenntnis nehmen, um den aktuellen Stand der Forschung und dessen Beschaffenheit adäquat verstehen zu können. Man darf also nicht dem Irrtum unterliegen, dass es bei sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen nicht auf Aktualität ankomme.
Paradigmenwechsel in der Wissenschaft Doch wissenschaftlicher Wandel vollzieht sich nicht ganz so linear und reibungslos, wie sich das Außenstehende und sogar manche Wissenschaftler vorstellen mögen. Der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn beschreibt so etwas wie den Lebenszyklus von Wissenschaften. Deren stabile Phase bezeichnet er als normale Wissenschaft, die durch das Vorherrschen so genannter Paradigmata gekennzeichnet ist. In diesem Stadium gibt es klare Lehrsätze, die herrschenden Theorien sind gefestigt und die Wissenschaftler arbeiten überwiegend daran, diese Theorien an hier und da auftretende kleinere Probleme anzupassen. Wenn nach einiger Zeit dann Anomalien und von der herrschenden Theorie nicht zu lösende schwerwiegende Probleme bestehen oder spektakuläre Entdeckungen verzeichnet werden, gerät das Paradigma ins Wanken und muss sich einer Grundsatzdiskussion stellen. Denn eine solche Krise fordert neue Erklärungsversuche und das Entwerfen neuer Paradigmata geradezu heraus, was schließlich zu einem Paradigmenwechsel und zur Durchsetzung neuer Hypothesen in wissenschaftliche Theorien führt.
Der wohl bekannteste Paradigmenwechsel in der Wissenschaftsgeschichte ist die Kopernikanische Wende, die mit der Vorstellung aufräumte, die Erde befände sich im Zentrum des Universums. Was man auf den ersten Blick für eine ausführlichere Darstellung des Fortschrittsgedankens halten könnte, ist etwas ganz anderes, denn der Fortschritt wird von Kuhn auch als Veränderung durch wissenschaftliche Revolutionen gedacht. Die Pointe besteht darin, dass die konkurrierenden Theorien zumindest teilweise inkommensurabel (nicht vergleichbar) sind. Das bedeutet, unterliegt wissenschaftlicher Wandel nicht ausschließlich rationalen Gründen und kann sogar nicht ausschließlich rational bewertet werden. Auch hierzu ein Beispiel: Eine große wissenschaftliche Revolution war der Wechsel von der Newtonschen Physik zur Relativitätstheorie von Albert Einstein, die allerdings nur bedingt vergleichbar sind. So verstehen sie beispielsweise etwas völlig anderes unter dem Begriff der Energie. Bestehende Probleme wurden damit nicht in klassischen Sinne systemimmanent (innerhalb eines theoretischen Ansatzes) gelöst: stattdessen wurde lediglich die Problemstellung verschoben.
Dieser unaufhörliche Wandel der Wissenschaften hat auch Auswirkungen auf den Buchhandel. Erstens ändern sich die Ordnungen wissenschaftlicher Disziplinen, sodass auch die jeweiligen Warengruppenordnungen nach Bedarf angepasst werden müssen. Vor allem aber ergibt sich für den Buchhandel die Notwendigkeit immer neuer Titel bzw. immer neuer Auflagen bewährter Titel. Zweitens gilt es, die ›Moden‹, die es auch in der Wissenschaft vor allem in Form verschiedener thematischer Schwerpunktsetzungen gibt, genau zu beobachten und innerhalb einer Warengruppe das Angebot anzupassen. Für diese Themenverschiebungen sind außerdem noch weitere wissenschaftssoziologische Faktoren verantwortlich, wie eine gewisse Schulen- und Gruppenbildung, der durch die klaren Hierarchien an den Hochschulen Vorschub geleistet wird. Die angespannte Arbeitsmarktlage für Wissenschaftler an Hochschulen und der starke Konkurrenz- und Erfolgsdruck tun ihr Übriges.
Der Buchhandel muss die prominenten Text der renommierten Wissenschaftler, die vor Ort lehren, vorrätig halten und sie zuordnen können. Ferner hat er mit seiner Warengruppenstruktur auf einige Entwicklungen in der Wissenschaft reagieren. Und zwar sowohl auf die Verschiebung der Bedeutung verschiedener Disziplinen untereinander (beispielsweise die rasant steigende Beliebtheit der Kulturwissenschaft oder der Umweltwissenschaft) als auch auf die sich verschiebende Problemstellung innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen (zum Beispiel in der Geschichtswissenschaft: weg von der reinen politischen Geschichte hin zur Kulturgeschichte). Wie man sich als Buchhändler konkret über diese Trends innerhalb der Wissenschaft informieren kann, dazu informieren die einzelnen Themenkapitel.
[…]
Unkorrigierter und gekürzter Auszug aus dem Buch Klaus-W. Bramann, Michael Buchmann, Michael Schikowski (Hg.): Warengruppen im Buchhandel. Grundlagen - Allgemeines Sortiment - Fachbuch, Frankfurt am Main, Bramann Verlag, 2011.
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