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Derrida oder "Das Ende der Herrschaft des Logos über die Schrift" - I
von Matthias Agethen
Im Folgenden wird es um die Schriften Jacques Derridas gehen, um Grammatologie[1] und Die Schrift und die Differenz,[2] in denen er sich vor allem mit dem Phänomen des sprachlichen Zeichens, der gesprochenen und der geschriebenen Sprache beschäftigt. In beiden Schriften entwickelt er jeweils in Auseinandersetzung mit Texten der abendländischen Philosophie eigene Thesen, d. h. er dekonstruiert die klassischen Texte. In der Grammatologie, um die es im Folgenden vor allem gehen wird, gelangt er über die Dekonstruktion etwa von Texten Ferdinand de Saussures, Jean Jacques Rousseaus und Martin Heideggers zu der Einsicht, dass die Geschichte der abendländischen Philosophie in besonderem Maße eine Geschichte der Begrenzung und Einengung auf der einen und der Herrschaft und der Macht auf der anderen Seite ist. Der in und mit der abendländischen Philosophie entstehende Logozentrismus bedeute in der Fixierung auf einen Logos, auf ein sinnhaftes Zentrum, auf den einen Gott, eine starke Begrenzung des Denkens und der Möglichkeiten von Bedeutung, so Derrida. Dieser Logozentrismus sei unmittelbar verbunden mit dem Phonozentrismus, der als Dominanz des gesprochenen Wortes automatisch einhergehe mit der Herabwürdigung, Verdrängung und Ausgrenzung der Schrift.
Das philosophische Hauptanliegen Derridas besteht deshalb darin, die traditionelle Dominanz der phone gegenüber der geschriebenen Sprache zu neutralisieren. Derrida versucht dies über einen neuen und universalen Schriftbegriff zu erreichen, der in und mit der Grammatologie entstehen soll und – weit darüber hinaus – Auswirkungen haben wird nicht nur auf den Bereich graphischer Signifikation, sondern vielmehr eine starke Kritik bzw. Korrektur sprachphilosophisch-semiologischer und letztlich auch ontologisch-metaphysischer Annahmen, im Sinne einer „Erschütterung der Präsenzmetaphysik“,[3] bedeuten wird.
Derridas Kritik am Phono-Logozentrismus
Jacques Derridas sprachphilosophische Thesen entstehen vor allem in der Auseinandersetzung mit der von Ferdinand de Saussure begründeten Zeichentheorie bzw. Semiologie. Der Schlüsselbegriff in Saussures strukturalistischem Standardwerk,[4] der des Zeichens, ist jedoch – Derrida zu Folge – an sich schon problematisch, da er als Produkt der abendländischen Metaphysik nicht von dieser zu trennen sei: Derrida beschreibt den Saussure’schen Zeichenbegriff als „von seinem Ursprung und seinen Implikationen her durch und durch metaphysisch“.[5]
Deshalb ist es notwendig, kurz zu klären, wie Derridas Kritik an der abendländischen Metaphysik beschaffen ist. Als Neologismen setzt Derrida die Begriffe Phonozentrismus und Logozentrismus in direkte Verbindung zur abendländischen philosophischen Tradition, die sich „von Platon (über Leibniz) bis Hegel und […] von den Vorsokratikern bis Heidegger“ fortziehe (GR 11). Polemisch beschreiben die Begriffe Phonozentrismus und Logozentrismus die – im Denken Derridas – falschen Annahmen und damit fehlgehenden Folgerungen abendländischer Philosophie.[6] Der erste metaphysische und folgenschwerste Fehlgriff der philosophischen Tradition bestehe in der Herabwürdigung der Schrift zugunsten der Stimme und des Logos. Die Geschichte der abendländischen Philosophie seit Platon ist für Derrida daher eine Geschichte der Herrschaft der Stimme (Phonozentrismus) und des Logos (Logozentrismus) über die Schrift: Die abendländische Metaphysik sei „immer schon Erniedrigung [und] Verdrängung der Schrift“ (GR 12) gewesen.
Phonozentrismus bezeichnet in diesem Sinne die kulturelle und historische Dominanz des Gesprochenen gegenüber dem Geschriebenen. Diese Dominanz zeige sich am deutlichsten in dem Versuch des abendländisch-europäischen Kulturkreises, die Schrift nach dem gesprochenen Wort auszurichten: in der Einführung der alphabetisch-phonetischen Schrift (vgl. SuG 64).[7] Eine rein phonetische Schreibweise – die exakte Nachbildung des Gesprochenen durch die Schrift – könne es jedoch niemals geben, sei reine Illusion: „dieses besondere Modell, das die phonetische Schrift darstellt, existiert nicht [Hervorhebung i.O., M.A.]“ (GR 70).
Allein der Versuch, das Schreiben an der gesprochenen Sprache auszurichten, deute auf eine tiefer liegende Illusion, ja einen philosophischen Irrglauben hin: auf die Illusion der Stimme bzw. des Sprechens.[8] Belege für diesen Phonozentrismus findet Derrida unter anderem bei Platon, Rousseau[9] und de Saussure: Platon bezeichnet das gesprochene Wort als „lebende und beseelte Rede“, als „besser und mächtiger“ als die Schrift.[10] De Saussure urteilt ganz analog, indem er die Stimme als das „natürliche und allein wirkliche Band, dasjenige des Lautes“ bezeichnet.[11] Damit umreißt de Saussure sogleich das Aufgabengebiet des Semiologen:
tatsächlich arbeitet jede Sprache mit einer bestimmten Anzahl deutlich unterschiedener Lauteinheiten. Dieses System ist das einzig Wirkliche, auf das es dem Sprachforscher ankommt. Die Schriftzeichen sind nur ein Abbild davon, dessen Genauigkeit festzustellen ist.[12]
Die „Befreiung vom Buchstaben“ stelle – so de Saussure weiter – „ein[en] erste[n] Schritt zur Wahrheit“ dar.[13]
Sowohl Platon als auch de Saussure nehmen an, dass die gesprochene Sprache „beseelter“ und „natürlicher“ sei und in engerer Verbindung zur „Wahrheit“ stehe als die Schrift. Derrida sieht in dieser Fixierung auf das gesprochene Wort und in seiner theoretischen Verbindung zu einer irgendwie gearteten „Seele“ (Platon) bzw. „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ (de Saussure) einen ontologisch-metaphysischen Fehlschluss: implizit bedeute das die Annahme eines bestimmten Logos, eines letzten Sinns, der, wenn auch nicht immer erkannt, so doch jedenfalls in der gesprochenen Rede sich manifestiere: Die „beseelte Rede“ ist das „natürliche Band“, das die menschliche Sprache mit dem einen (göttlichen) Logos verbindet. Derrida fasst zusammen:
Alle metaphysischen Bestimmungen der Wahrheit […] sind mehr oder weniger nicht zu trennen von der Instanz eines Logos oder einer von ihm abstammend gedachten Vernunft […] als unendliche[r] Verstand Gottes […] In diesem Logos war die ursprüngliche und wesentliche Verbindung zur phone [Hervorhebung i.O., M.A.] niemals unterbrochen. (GR 24).
Damit wird der Derrida’sche Phonozentrismus zum Phono-Logozentrismus. Die abendländische Logos-Philosophie fand – laut Derrida – die Verbindung zu ihrem Objekt, zu dem einen irreduziblen göttlichen Sinn, immer in der phone und nicht im Geschriebenen: „Logozentrismus der zugleich ein Phonozentrismus ist: absolute Nähe der Stimme zum Sein, der Stimme zum Sinn des Seins, der Stimme zur Idealität des Sinns.“ (GR 25).[14] An anderer Stelle erläutert Derrida den Zusammenhang folgendermaßen:
Die phone ist in der Tat die bezeichnende Substanz, die sich dem Bewusstsein gegenüber als enge Verbündete der Vorstellung vom bezeichneten Begriff ausgibt, und von diesem Gesichtspunkt aus ist die Stimme das Bewusstsein selbst [Hervorhebungen i.O., M.A.] (SuG 60).
Das ist insofern von großer Bedeutung als dass jener „Begriff“, das Signifikat – im Derrida’schen Nachvollzug der abendländischen Metaphysik – der Ort des „einen absoluten Logos“ (GR 28) ist. Die Saussure’sche Trennung des sprachlichen Zeichens in ein Signifikat und einen Signifikanten impliziere vor dem skizzierten metaphysischen Hintergrund eine starke Dominanz des Intelligiblen (Signifikat) als Ort der Manifestation von Sinn und Bedeutung gegenüber dem Sinnlich-Wahrnehmbaren (Signifikant) (vgl. GR 28). Derrida spricht deshalb auch von der „Totalität des Signifikats“ (GR 35) im metaphysischen Denken.
In diesem Zusammenhang wird auch evident, was er unter dem Begriff des transzendentalen Signifikats versteht. Er meint damit ein Signifikat, einen irreduzibel gedachten Begriff, der als hypothetischer ‚Wert’ der philosophischen Metaphysik und Ontologie schon immer zu Grunde gelegen habe und als primum signatum von „reiner Intelligibilität“ in Opposition steht zur „Äußerlichkeit des sinnlichen Diesseits“ (GR 28, vgl. GR 38f.): Einem Weltlich-Diesseitigen (etwa dem schriftlichen Signifikanten) geht ein präexistentieller, prästabilierter, göttlicher Sinn voraus. Wichtig ist hierbei besonders das zeitliche Moment: Derrida unterstellt, dass das transzendentale Signifikat – in der Logik der abendländischen Metaphysik – jeder Form der Verräumlichung bzw. Materialisation vorausgehe. Es handele sich um ein letztlich theologisch motiviertes Moment der Ursprünglichkeit (vgl. GR 125). Die bescheinigte ontologische Fixierung auf ein hypothetisches Signifikat deutet für Derrida darauf hin, dass das metaphysische Denken in einer Zentrierung auf einen Sinn besteht, der besser durch die phone ‚gehoben’ werden könne als durch die Schrift.
Derrida bewertet diese Zentrierung, diese Fixiertheit auf einen hypothetischen letztmöglichen Logos als starke Reduktion der Möglichkeiten von Sinn und Bedeutung. Die Geschichte der abendländischen metaphysischen und ontologischen Tradition ist für ihn deshalb eine Geschichte der Begrenzung und Einengung von Möglichkeiten und Sinn-Potenzialen (vgl. GR 41, 47, 124) und eine Geschichte der Herrschaft und der Gewalt des Inneren bzw. Geistigen gegenüber einem Äußeren bzw. Materiellen – etwa der Schrift (vgl. GR 11, 76).
Schriftfeindlichkeit
Platon
Derrida selbst verweist mehrfach auf den Phaidros-Dialog Platons (vgl. GR 60, 65) als einen Initiationstext abendländischer Schriftfeindlichkeit – ohne jedoch entsprechende Textstellen zu zitieren. Im Folgenden sollen daher die Belege beigebracht werden für den tatsächlich höchst phonozentristischen und schriftfeindlichen Duktus des Platonischen Dialogs.
Wie oben dargelegt, wird die gesprochene Rede im Phaidros beschrieben als „besser und mächtiger“ als die Schrift, als reiner Ausdruck von „Erkenntnis“ und „Seele“, schließlich als „lebende und beseelte Rede des Wissenden“.[15] Die von Derrida bescheinigten Elemente abendländisch-metaphysischer Bevorzugung der phone lassen sich hier unschwer wiederfinden. Die Stimme steht dem letzten, unbegründbaren, irreduziblen und deshalb göttlichen Sinn am nächsten. Sie ist das Medium der „Erkenntnis“ und das der „Wissenden“. Darüber hinaus ist die gesprochene Sprache eine „lebende“ Ausdrucksform und wird somit in den Bereich der geistigen, belebten und von Gott geschaffenen Natur eingezogen.
Diese natürlich-vitale Form der Sprache findet ihren Widerpart in der geschriebenen Sprache. Im Phaidros heißt es über die Schrift:
Denn wer dies lernt [das Schreiben, M.A.], dem pflanzt es durch Vernachlässigung des Gedächtnisses Vergeßlichkeit in die Seele, weil er im Vertrauen auf die Schrift von außen her durch fremde Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst die Erinnerung schöpft. Nicht also für das Gedächtnis, sondern für das Erinnern erfandest du ein Mittel. Von der Weisheit aber verleihst du deinen Schülern den Schein, nicht die Wahrheit.[16]
Zunächst wird die Schrift hier beschrieben als eine Mnemotechnik, die dazu dienen soll, das Gedächtnis zu stützen und den Gedanken vor der menschlichen Vergesslichkeit zu schützen. Diesen ‚Vorteil’ der Schrift gegenüber dem Gesprochenen lässt Platon aber nicht gelten. Das Gegenteil sei der Fall, die Schrift bedeute eine Vernachlässigung, keine Stütze des Gedächtnisses und arbeite somit der Vergesslichkeit zu. Die Schrift mache den Menschen bequem, das Gedächtnis ‚erschlaffe’ mangels ‚Training’.
Viel wichtiger jedoch als der Aspekt der Schrift als Verbesserung bzw. Verschlechterung der Mnemotechnik ist ihre Kennzeichnung als etwas Fremdes, Äußeres und Scheinhaftes. Die Buchstaben sind „fremde Zeichen“, die „von außen her“ die Wahrheit und die Erkenntnis behindern und bedrohen (vgl. auch GR 27). Platon bezeichnet die Schrift weiterhin als bloßes „Abbild“[17] der gesprochenen Rede. Die Schrift wird also am Beginn der metaphysischen Logos-Philosophie als etwas etabliert, das eine akute äußere Bedrohung darstellt für das Erkennen letzter Wahrheiten. Diese Erkenntnis der Wahrheit ist der gesprochenen Sprache vorbehalten, die als „beseelte Rede“ im Bereich der göttlichen Idee angesiedelt ist. Die Stimme ist das Medium, das geeignet ist, das Wissen darzustellen, das „von innen her aus sich selbst“[18] entspringt. Der Ausdruck durch die Stimme ist – nach Platon – der menschlichen Natur wesenhaft, das gesprochene Wort ist innerlich und natürlich.
Die geschriebene Sprache dagegen, die Schrift ist äußerlich und unnatürlich: aus dem „schwarze[n] Wasser“ ist nichts „Klares und Festes“ zu gewinnen.[19] Die Schrift verdunkelt also buchstäblich den Sinn und die Bedeutung, sie wird als obskure, fremde und kontaminierende Äußerlichkeit beschrieben.
Auch wird die Schrift bereits bei Platon als das etabliert, was sie – laut Derrida – über 2000 Jahre lang bleiben wird: Schreiben und Schrift sind – im Denken Platons – Instrumente: Die Schrift als Instrument trägt selbst keine Bedeutung, keinen Sinn in sich. Eher neigt sie dazu – wie gezeigt – einen vorhandenen Sinn zu verdunkeln und zu entstellen. Sie ist als bloßes „Abbild“ und als Erinnerungshilfe dem Bereich der Technik zugeordnet. Sache der Schrift ist es, die verbalisierten Gedanken nach technischen Gesichtspunkten und nach bestimmten Regeln nachzuzeichnen, abzumalen und abzuschreiben. Als Technik kann die Schrift zwar erlernt werden, Schreiber könnten theoretisch das Handwerk des Schreibens perfektionieren, doch bleibt die Schrift durch eben diesen technischen Aspekt einem prinzipiell störenden und verzögernden Bereich, dem Bereich einer irgendwie gearteten Übertragung zugeordnet (vgl. GR 19, 61). Das Schreiben ist – nach Platon – allenfalls ein defizitärer Versuch der Vermittlung einer der Materialisation eigentlich wesensfremden wahren Bedeutung.
De Saussure
Auch in den Grundfragen de Saussures finden sich Belege für den von Derrida unterstellten Phono-Logozentrismus (vgl. SuG 64). In diesem Zusammenhang weist Derrida darauf hin, dass die gesamte Sprachwissenschaft von falschen, d. h. in der Terminologie Derridas phonozentrischen Grundannahmen ausgehe. Er spricht von einer „systematisch[en] und entschieden phonologisch[en] Orientierung der Linguistik“ (GR 52), die letztlich auf das Zurückdrängen und die Ausgrenzung der Schrift hinauslaufe (vgl. SuG 63). Im Folgenden soll daher überprüft werden, wie die Schrift bei de Saussure konzipiert ist. Tatsächlich heißt es dort:
Sprache und Schrift sind zwei verschiedene Systeme von Zeichen; das letztere besteht nur zu dem Zweck, um das erstere darzustellen. Nicht die Verknüpfung von geschriebenem und gesprochenem Wort ist Gegenstand der Sprachwissenschaft, sondern nur das letztere, das gesprochene Wort allein ist ihr Gegenstand.[20]
Damit sind bereits zwei wichtige Elemente genannt, die de Saussure der Schrift attribuiert. Zum einen wird die Schrift beschrieben als ein eigenes Zeichensystem, das an sich in keinem originären Verhältnis zum Sprachsystem, zur langue steht. Die Schrift wird aus dem Bereich der Sprache ausgegrenzt, de Saussure betont ausdrücklich, „wie sehr die Sprache von der Schrift unabhängig ist.“[21]
Weiterhin findet sich auch bei de Saussure – wie schon im Phaidros – die Vorstellung, der einzige „Zweck“ der Schrift bestehe darin, das gesprochene Wort „darzustellen“. Derrida spricht in diesem Fall von einer „‚repräsentativistischen’ Konzeption der Schrift“ (SuG 64). De Saussure beschreibt den graphischen Signifikanten unter anderem als „Bezeichnung“, „Abbild“ und „Hilfsmittel“.[22] Wie schon in der Antike gilt die Schrift weiterhin als schlichtes Instrument der Darstellung und als Technik der Repräsentation, die der (gesprochenen, natürlichen) Sprache eigentlich entgegenstehen: De Saussure meint, die Schrift sei „dem inneren System fremd“.[23]
Die Saussure’sche Terminologie deutet sogar auf eine Radikalisierung der Platonischen Schriftkonzeption hin: In den Grundfragen ist die Schrift eine „Verkleidung“ und „verschleiert“ somit die Sprache, sie ist eine „trügerisch[e] […] Falle“ mit „irreführende[m] Charakter“.[24] War dieses Element der Irreführung und der Verdunkelung eines a priori vorhandenen und durch die gesprochene Sprache prinzipiell frei zugänglichen Sinns der Schrift auch schon bei Platon beigelegt, rückt das Geschriebene bei de Saussure zudem ins Pathologische.[25] Die Schrift wird als Äußeres und Fremdes in den Bereich des Krankhaften und Morbiden eingezogen, das eine ständige Bedrohung für den schützenswerten Raum des „inneren Systems“ darstellt (vgl. auch GR 47). Die Schrift erscheint als unnatürliche Störung des prinzipiell intakten sprachlichen Systems. Aufgrund ihrer materiellen Beschaffenheit, ihrer graphischen Struktur, stellt sie eine Verzögerung einer von Natur aus ‚flüssigen’ und dynamischen sprachlichen Entwicklung dar. Die „Lauteinheiten [sind] das einzig Wirkliche“,[26] die graphischen Einheiten bedürfen dagegen erst der „Interpretation“.[27] Sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Schrift erfordern in dieser Hinsicht – im Vergleich zur phone – mühsame Operationen.
In keinem Fall wird der Schrift eine Form eigener Bedeutung zugestanden. Das Graphische bedeutet gegenüber der gesprochenen Sprache kein ‚Plus’ an Bedeutung oder einen Sinnzuwachs (vgl. GR 25). Das Gegenteil ist der Fall: In der Schriftkonzeption de Saussures (und Platons) besteht im Moment der ‚Repräsentation’ durch die Verschriftlichung eines Gedankens bzw. einer Aussage immer die Gefahr des Bedeutungsverlusts und der Verdunkelung bzw. Entstellung von Sinn.
Derrida sieht in all dem eine weitere Bestätigung für seine These, die Geschichte der abendländischen Philosophie und Metaphysik sei in höchstem Grade schriftfeindlich (vgl. SuG 64, GR 19, 56). Gegenüber der Schrift erfahre die phone eine Privilegierung, die im Grunde völlig kontingent sei, die dem Wesen der Sprache eigentlich entgegenstehe (vgl. GR 55).
Über das Problem der Schriftfeindlichkeit in den Grundfragen gelangt Derrida zu dem Urteil, das Zurückdrängen der Schrift und die Dominanz der gesprochenen Sprache seien dem Saussure’schen Zeichenbegriff selbst eingeschrieben und damit nicht von ihm zu trennen.[28] Dies resultiere aus der Tatsache, dass Saussure den Begriff des Zeichens der „abendländischen Tradition entnommen“ habe (SuG 57). Die Zweiteilung des Zeichenbegriffs[29] in ein Signifikat und einen Signifikanten führe zwangsläufig zu einer Privilegierung der einen gegenüber der anderen Seite des Zeichens („Totalität des Signifikats“, GR 35). Das Saussure’sche Prinzip der Zweiseitigkeit des sprachlichen Zeichens bzw. der Zweiteilung in einen intelligiblen und einen sinnlich-wahrnehmbaren Bestandteil impliziere immer schon die Annahme, der Signifikant sei „technisch und repräsentierend[]“ und selbst „nicht sinnbildend“ (GR 25). De Saussure bestätige also mit seinem „metaphysischen“ Zeichenbegriff den Phono-Logozentrismus, indem er den Ausschluss und die gewaltsame Verdrängung der Schrift aus dem System der langue bedeute (vgl. GR 60, 70, 79). Die Überwindung des Phono-Logozentrismus und seiner Implikationen, d.h. die ‚In-Recht-Setzung’ der Schrift könne deshalb nur über die Arbeit am Zeichenbegriff, über seine Dekonstruktion erreicht werden.
Quellen- und Literaturverzeichnis
Derrida, Jacques: Grammatologie, übers. v. Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt/Main 1974. [Franz. Erstausg.: De la grammatologie, Paris 1967].
Ders.: Die Schrift und die Differenz, übers. v. Rodolphe Gasché, Frankfurt/Main 1976. [Franz. Erstausg.: L’écriture et la différence, Paris 1967].
Ders.: Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, in: Texte zur Theorie des Textes, hrsg. v. Stephan Kammer und Roger Lüdeke, Stuttgart 2005, S. 55-70.
Ders.: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, übers. v. Hans-Dieter Gondeck, Frankfurt/Main 2003. [Franz. Erstausg.: La voix et le phénomène, Paris 1967].
Kimmerle, Heinz: Jacques Derrida zur Einführung, 3., überarb. und erw. Aufl., Hamburg 1992.
Lagemann, Jörg/Gloy, Klaus: Dem Zeichen auf der Spur. Derrida – Eine Einführung, Aachen 1998.
Platon: Phaidros oder Vom Schönen, in: Texte zur Medientheorie, hrsg. v. Günter Helmes und Werner Köster, Stuttgart 2002, S. 26-30.
Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, übers. v. Herman Lommel, 2. Aufl. hrsg. v. Peter von Polenz, Berlin 1967.
Wegmann, Nikolaus: Dekonstruktion, in: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin 1997, S. 334-337.
Wetzel, Michael: Derrida, Stuttgart 2010.
[1] Jacques Derrida: Grammatologie, übers. v. Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt/Main 1974. [Franz. Erstausg.: De la grammatologie, Paris 1967]. Fortan werden Zitate unter Angabe der Sigle GR und der Seitenzahl im Text nachgewiesen.
[2] Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, übers. v. Rodolphe Gasché, Frankfurt/Main 1976. [Franz. Erstausg.: L’écriture et la différence, Paris 1967].
[3] Jörg Lagemann/Klaus Gloy: Dem Zeichen auf der Spur. Derrida – Eine Einführung, Aachen 1998, S. 88.
[4] Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, übers. v. Herman Lommel, 2. Aufl. hrsg. v. Peter von Polenz, Berlin 1967.
[5] Jacques Derrida: Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, in: Texte zur Theorie des Textes, hrsg. v. Stephan Kammer und Roger Lüdeke, Stuttgart 2005, S. 55-70, hier S. 55. Fortan werden Zitate unter Angabe der Sigle SuG und der Seitenzahl im Text nachgewiesen.
[6] Ein weiterer Schlüsselbegriff in diesem Zusammenhang ist Ethnozentrismus, auf diesen kann im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht weiter eingegangen werden; vgl. zum Zusammenhang von Phono-Logozentrismus und Ethnozentrismus Heinz Kimmerle: Jacques Derrida zur Einführung, 3., überarb. und erw. Aufl., Hamburg 1992, S. 36f.
[7] In der Grammatologie fällt das Urteil über die alphabetisch-phonetische Schrift verheerend aus: „Unzulänglichkeit der alphabetischen Schrift“ (GR 22); „mit Recht möchte man sie [die phonetische Schrift, M.A.] als abendländischen Phonozentrismus, prä-mathematischen Primitivismus und prä-formalistischen Intuitionismus betrachten.“ (GR 71).
[8] Vgl. zu dieser „illusionäre[n] Figur“ auch Lagemann/Gloy: Dem Zeichen auf der Spur, a.a.O., S. 121.
[9] Vgl. zum Phonozentrismus Rousseaus den zweiten Teil der Grammatologie, der aus einer „Lektüre der Epoche Rousseaus“ besteht (GR 7).
[10] Platon: Phaidros oder Vom Schönen, in: Texte zur Medientheorie, hrsg. v. Günter Helmes und Werner Köster, Stuttgart 2002, S. 26-30, hier S. 28.
[11] Saussure: Grundfragen, a.a.O., S. 30.
[12] Ebd., S. 40.
[13] Ebd., S. 38.
[14] Zum Zusammenhang von gesprochenem Wort und Sein in der abendländischen Ontologie vgl. auch Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, übers. v. Hans-Dieter Gondeck, Frankfurt/Main 2003. [Franz. Erstausg.: La voix et le phénomène, Paris 1967].
[15] Platon: Phaidros, a.a.O., S. 28.
[16] Ebd., S. 27.
[17] Ebd., S. 28.
[18] Ebd., S. 27.
[19] Ebd., S. 29.
[20] Saussure: Grundfragen, a.a.O., S. 28.
[21] Ebd., S. 29.
[22] Ebd., S. 32, 35, 38, 40.
[23] Ebd., S. 28.
[24] Ebd., S. 35, 38, 40.
[25] Ebd., S. 37: de Saussure spricht von „pathologische[n] Erscheinung“ und von „Mißgeburten“.
[26] Ebd., S. 40.
[27] Ebd., S. 41.
[28] Vgl. Lagemann/Gloy: Dem Zeichen auf der Spur, a.a.O., S. 91f.
[29] Saussure sagt, dass „die sprachliche Einheit etwas Doppelseitiges ist, das aus der Vereinigung zweier Bestandteile hervorgeht.“ Saussure: Grundfragen, a.a.O., S. 77.
Matthias Agethen studiert Germanistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Den zweiten Teil können Sie hier lesen.
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