TexturenCampus


Derrida und das Ende der Herrschaft des Logos über die Schrift II

von Matthias Agethen

von Pablo Secca (Eigenes Werk) [CC-BY-3.0 (www.creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons
von Pablo Secca (Eigenes Werk) [CC-BY-3.0 (www.creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons

Derridas Grammatologie

 

Bei aller Kritik der metaphysischen abendländischen phonologozentristischen Tradition geht es Derrida letztlich um die Einführung einer neuen Wissenschaft von der Schrift, der Grammatologie, die der Theorie der Schrift den „erforderlichen Spielraum gegen die logozentrische Unterdrückung und die Unterordnung unter die Linguistik verschafft“ (GR 89). Wichtig hierbei ist, dass Derrida mit dem Begriff ‚Schrift’ nicht das meint, was darunter seit je her und bis heute verstanden wurde und wird.[1] Die Alltagssprache, als die „Sprache der abendländischen Metaphysik“ (SuG 57), hat eine Quasi-Synonymisierung der Schrift und der auf Nachbildung der Stimme angelegten alphabetisch-phonetischen Schrift bewirkt. Derrida geht es nun tatsächlich darum, „einen neuen Schriftbegriff zu schaffen“ (SuG 65). Man müsste zusetzen: einen völlig neuen Begriff der Schrift. Zwar spricht Derrida selbst – recht zurückhaltend für das eigene Anliegen – von einer „Reform des Schriftbegriffs“ (GR 95) bzw. von einem „modifizierten Schriftbegriff“ (GR 97). Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass dieser „neue Schriftbegriff“ mit dem ‚alten’ nichts mehr gemein haben wird; so findet sich in der Grammatologie eine erste Bestimmung der Schrift in einer Setzung ex negativo: Die Schrift ist in erster Linie nicht das, was die (metaphysische) Alltagssprache darunter versteht (vgl. GR 75).

     Die Schwierigkeit, diesen neuen Begriff der Schrift und des Schreibens terminologisch irgendwie greifbar zu machen, wird mit Blick auf den experimentellen, skizzenhaften und hypothetischen Charakter der Grammatologie sichtbar: Es geht darum, die Schrift in einem „noch zu erfindenden […] hypothetischen Zeichensystem[]“ (GR 97) zu verorten und als neue und universelle Kategorie zu etablieren. Entscheidend ist, dass es sich um eine „generalisierte Schrift“ (GR 97) handeln wird, die völlig neue Möglichkeiten eröffnen und Grenzen sprengen wird – etwa die Grenzen des Buches (vgl. GR 35). Letztlich wird es um die „Befreiung des Signifikanten aus seiner Abhängigkeit“ (GR 36) vom Logos, vom Signifikat, vom transzendentalen Signifikat gehen, also um eine radikale Aufwertung des (graphischen) Signifikanten.

     Zwar ist die Dekonstruktion als Lektüreverfahren selbst keine Methode im engeren Sinne,[2] doch bedient sie sich der Streichung traditioneller philosophischer Begriffe als Methode. Diese Vorgehensweise, auf die Derrida durch die Auseinandersetzung mit Martin Heidegger zurückgreifen kann (vgl. GR 42f.), erlaubt ein gleichzeitiges Verwenden und Ablehnen der metaphysischen Terminologie. Derrida wendet die Technik der Streichung in der Grammatologie auf den Begriff der Schrift an. Durch das Durchstreichen verwendet er den Begriff und lehnt ihn gleichzeitig ab. Der Begriff – und mit ihm seine begriffsgeschichtlichen Implikationen – bleiben sichtbar und präsent und werden doch negiert. Ganz in diesem Sinne beschreibt Derrida die Dekonstruktion als ein Verfahren, das nicht „von außen an die Strukturen“ rühre, vielmehr „bewohn[e]“ die Dekonstruktion das Denken der Logos-Philosophie, sie operiere gewissermaßen „von innen her“ (GR 45).

 

Der Rückgriff auf de Saussure

Das Verhältnis von Jacques Derrida gegenüber den Thesen von Ferdinand de Saussure ist ambivalent. Derrida bescheinigt de Saussure zum einen sehr gute Ansätze, durch seine Theorie den Phono-Logozentrismus zumindest erkannt und relativiert zu haben (vgl. SuG 55, 59). Auf der anderen Seite polemisiert er jedoch gegen de Saussure und seinen Zeichenbegriff. Allein schon durch die Verwendung des Zeichenbegriffs bleibe de Saussure der phonologozentristischen Tradition verhaftet (vgl. GR 75f.). Vor allem jedoch sei das Saussure’sche Postulat der Linearität der Sprache falsch. Der „Linearismus“ sei vom „Phonologismus“ nicht zu trennen (GR 126). Sowohl die „Linearisierung der Schrift“ als auch das „linearistische[] Konzept des gesprochenen Worts“ (GR 126) seien Produkte der fehlgehenden abendländischen Metaphysik. In der Tat heißt es bei de Saussure dazu:

 

Das Bezeichnende, als etwas Hörbares, verläuft ausschließlich in der Zeit und hat Eigenschaften, die von der Zeit bestimmt sind […] Diese Besonderheit stellt sich unmittelbar dar, sowie man sie [die akustische Bezeichnung] durch die Schrift vergegenwärtigt und die räumliche Linie der graphischen Zeichen an Stelle der zeitlichen Aufeinanderfolge setzt.[3]

 

Sowohl das gesprochene, als auch das geschriebene Wort sind bei de Saussure ausschließlich als Signifikanten denkbar, die sich in einer Ordnung der Abfolge und der Reihung bewegen oder besser: nicht-bewegen. Das Moment der zeitlichen Abfolge der lautlichen Signifikanten wird auf die Reihung im Raum der graphischen Signifikanten übertragen. Zwar geht es auch hier bei de Saussure um die Ausdehnung, die Verzeitlichung und die Verräumlichung der Signifikanten, jedoch ist diese Ausdehnung lediglich als zeitliche bzw. räumliche Ausdehnung auf einer Linie gedacht.

     Derrida sieht in dieser abendländisch-metaphysischen Beschränkung auf die Zweidimensionalität, die in der ausnahmslos linearen Reihung von Signifikanten besteht, eine Reduktion von kommunikativen, sprachlichen und medialen Möglichkeiten. Er entwickelt ein völlig anderes Konzept der (raum-zeitlichen) Ausdehnung sprachlicher Signifikanten, das vorerst mit den Begriffen Dislozierung und Temporalisierung umschrieben werden soll (vgl. GR 118f.).

     Den entscheidenden Wert der Saussure’schen Arbeit erkennt Derrida dagegen in der These der Differenzialität des sprachlichen Zeichens,[4] an diese will er anknüpfen, ihr „folgen und sie weiter[…]führen“ (GR 97, vgl. GR 92). In der Tat führt die Annahme der Differenzialität der Sprache zu einer Relativierung des Phonozentrismus – auch schon bei de Saussure: „In Wirklichkeit aber sind die Werte etwas vollständig Relatives, und eben deshalb ist die Verbindung von Vorstellung und Laut ganz und gar beliebig.“[5] De Saussure spricht hier ganz bewusst nicht von Bedeutungen, sondern von „Werten“. Dem Begriff „Wert“ ist der relationale und differentielle Charakter bereits beigelegt: ein Wert lässt sich nur mit Hilfe anderer Werte bestimmen. Es gibt keinen absoluten Wert, lediglich einen relativen. Eine Bedeutung kann sich nur aus dem Zusammenspiel der relativen Werte der sprachlichen Signifikanten ergeben: Die Sprache besteht in diesem Sinne aus Signifikanten, die ihrerseits

 

durch Unterscheidungen bestehen, die nicht positiv durch ihren Inhalt, sondern negativ durch ihre Beziehungen zu den anderen Gliedern des Systems definiert sind. Ihr bestimmtes Kennzeichen ist, daß sie etwas sind, was die anderen nicht sind.[6]

 

Es gibt in der Sprache – so de Saussure – keine positiven Bedeutungen, diese ergeben sich vielmehr ex negativo in Abgrenzung zu den sie umgebenden Elementen. Diesem Ansatz wohnt ein stark dezentrierendes Moment inne: Ein von sich aus bedeutungstragendes ‚Zentrum’ wird vor diesem Hintergrund völlig undenkbar, vielmehr scheint es sich um ‚verstreute’ sprachliche Glieder zu handeln, die erst in ihrer Unterscheidung zu anderen sprachlichen Gliedern die Möglichkeit von Bedeutung eröffnen. Das sprachliche Zeichen ist somit nicht sinntragend, sondern eher ein Sinn-Potenzial. De Saussure folgert dann auch,  

 

daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt. Mehr noch: eine Verschiedenheit setzt im allgemeinen positive Einzelglieder voraus, zwischen denen sie besteht; in der Sprache aber gibt es nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder.[7]

 

Dieses Kriterium der Differenzialität des sprachlichen Zeichens erstreckt sich sowohl auf den lautlichen, als auch auf den graphischen Signifikanten.[8] In dieser Perspektive sind also – entgegen der Saussure’schen Schriftfeindlichkeit – beide Arten der Signifikation, die lautliche und die graphische, gleichberechtigt. Auch der lautliche Signifikant hat keine positive, ‚feste’ Bedeutung, sondern nur ein relatives Bedeutungspotenzial, das sich allein in der Abgrenzung zu und im ‚Zusammenspiel’ mit anderen Signifikanten entfalten kann. Eigentlich bedeutungstragend ist die Verschiedenheit, die Differenz selbst.  

     Es ist genau dieser Gedanke, den Derrida aufgreifen und gewissermaßen radikalisieren wird. Die Saussure’sche Differenzialität impliziert bereits die Einsicht, dass es nicht den einen kohärenten, absoluten sprachlichen Sinn geben kann, dass vielmehr jeder Vorgang sprachlicher Bezeichnung ein Vorgang der Differenz ist. Es ist genau dieser ‚Charakterzug’ der Sprache, den Derrida mit dem Begriff der différance zu greifen versucht: „die Wörter und die Begriffe [werden] nur in differentiellen Verkettungen sinnvoll.“ (GR 122)  

 

Die Schrift bei Derrida

Wenn Derrida den Begriff „Schrift“ verwendet, meint er keinesfalls die Schrift im engeren (metaphysischen) Sinne, es geht vielmehr um eine „generalisierte Schrift“ (GR 97). Schrift ist alles, was „Anlaß sein kann für Ein-Schreibung“ (GR 21). Dennoch hängt der neue Schriftbegriff Derridas irgendwie mit dem alten der Metaphysik zusammen: Es geht um eine Schrift, „die wir nur deshalb weiterhin Schrift nennen wollen, weil sie wesentlich mit dem vulgären Schriftbegriff verbunden ist.“ (GR 99) Derridas neuer Schriftbegriff impliziert jedoch eine radikale Abkehr von der traditionellen Saussure’schen Zweiseitigkeit des sprachlichen Zeichens mit der Aufteilung in einen bezeichneten und einen bezeichnenden Teil, denn: die Schrift ist „über den Signifikanten hinaus das Signifikat selbst“ (GR 21, vgl. SuG 58). In der Derrida’schen Schriftkonzeption verschwindet damit die Grenze zwischen dem intelligiblen Begriff und der physischen Bezeichnung desselben. Sprachlicher Ausdruck ist – im Denken Derridas – jenseits der physischen Bezeichnung, der Signifikation undenkbar, – sei sie nun graphisch oder akustisch: „Die Urschrift aber [ist] in der Form und der Substanz nicht nur des graphischen, sondern auch des nicht-graphischen Ausdrucks am Werk.“ (GR 105) Die Signifikation selbst wird zum Bezeichneten, zum Bedeutungsträger.[9]

     Um diesen neuen Begriff der Schrift beschreibbar zu machen, entwickelt Derrida einige Neologismen, die begriffsgeschichtlich noch nicht ‚verbraucht’ sein können wie die ‚alten’ Begriffe des Zeichens, der Kommunikation und der Struktur (vgl. SuG 62f.). Die neuen Begriffe heißen Gramma, Urspur, Spur, Schrift, Urschrift und schließlich – différance. Derrida trennt ihre Bedeutungen nicht scharf voneinander, vielmehr werden sie in der Grammatologie und an anderer Stelle nahezu synonym verwendet: „Man kann ihn [den neuen Schriftbegriff] gramma oder différance nennen [Kursiv. i.O.]“ (SuG 65).[10] Werden die Begriffe auch nicht eindeutig voneinander geschieden, so sollen sie doch einen bestimmten methodologischen Zweck erfüllen: Sie weisen den Weg aus einer Terminologie, die in und mit der Epoche des abendländischen Phono-Logozentrismus entstanden ist, sie sind neu und deshalb nicht ‚vorbelastet’ (vgl. SuG 66).

     Die Konzeption der Sprache bzw. der Schrift erfährt bei Derrida eine enorme Dynamisierung, der das Statische und Lineare des traditionellen sprachlichen Zeichens fremd ist: die différance wird als „eine reine Bewegung“ (GR 109) bzw. als „aktive Bewegung“ (GR 88) beschrieben. Dies resultiert vor allem aus der faktischen Löschung des (transzendentalen) Signifikats: das „Signifikat [ist] ursprünglich und wesensmäßig […] Spur“, es befindet sich „immer schon in der Position des Signifikanten [Kurs. i.O.]“ (GR 129). Daraus ergibt sich ein Vorgang der Sinn- bzw. Bedeutungserzeugung, der als unendliches Aufeinander-Verweisen von Signifikanten auf Signifikanten konzipiert ist[11] – und eben nicht, wie es die metaphysische Tradition angenommen hatte, von der Repräsentation eines Bezeichneten durch ein Bezeichnendes ausgeht:

 

Kein Element kann je die Funktion eines Zeichens haben, ohne auf ein anderes Element, das selbst nicht einfach präsent ist, zu verweisen, sei es auf dem Gebiet der gesprochenen oder der geschriebenen Sprache. Aus dieser Verkettung folgt, daß sich jedes ‚Element’ – Phonem oder Graphem – aufgrund der in ihm vorhandenen Spur der anderen Elemente der Kette oder des Systems konstituiert. Diese Verkettung, dieses Gewebe ist der Text, welcher nur aus der Transformation eines anderen Textes hervorgeht […] Es gibt durch und durch nur Differenzen und Spuren von Spuren. (SuG 66)

 

Der „Text“ wird hier beschrieben als eine „Verkettung“, als ein „Gewebe“ von aufeinander verweisenden Signifikanten. Diese Signifikanten – „Phoneme“ oder „Grapheme“ – „konstituieren“ sich erst durch die in ihnen „vorhandene Spur der anderen Elemente“. Derrida lehnt also die Annahme einer Existenz voneinander unabhängig existierender sprachlicher Zeichen bzw. Bedeutungen ab. Die Erzeugung von Sinn und Bedeutung könne nur über Differenzen erfolgen – über die Verschiedenheit der sprachlichen Elemente. Der Begriff Spur, also das Vorhandensein von „Spuren von Spuren“, deutet genau darauf hin: Kein Element hat eine eigene feste und kohärente Bedeutung, vielmehr tritt jedes sprachliche Element lediglich als Erzeuger einer Spur bzw. als Spur selbst in Erscheinung: Derrida wählt das Bild der Spur (trace), da diese gerade das sei, „was nicht auf die Form der Präsenz reduziert werden“ könne (GR 99).

     Die Annahme eines Signifikats als Zentrum und Träger eines in letzter Konsequenz göttlichen Logos der Präsenz und des Seins – also die Annahme des transzendentalen Signifikats – wird damit abgelehnt. Dagegen setzt Derrida eine Konzeption von Schrift und Sprache, die von einer radikalen Differenzialität sprachlicher Zeichen bzw. besser: sprachlicher Elemente ausgeht. Die Ablehnung des transzendentalen Signifikats geht gleichzeitig einher mit der Ablehnung eines monozentrischen Sinn- bzw. Bedeutungsverständnisses und der Ablehnung einer linearen Struktur von Sprache: „Die Bedeutung bildet sich also nur in der Einbuchtung der différance: Der Diskontinuität und der Diskretion, der Aufschiebung und der Zurück(be)haltung“ (GR 121). Derrida weist damit auf die Aspekte der Verräumlichung und der Verzeitlichung, also auf die Dislozierung und die Temporalisierung hin. Außerhalb der raum-zeitlichen Ausbreitung, Verteilung und Verschiebung könne es keine Bedeutung geben.[12] Die Annahme einer rein intelligiblen Bedeutung – eines Signifikats – wird aufgegeben und abgelehnt zugunsten eines Konzepts, das die Erzeugung von Bedeutung bereits im Moment ihrer Entstehung an die Bedingungen raum-zeitlicher Materialisation bindet: Derrida spricht genau deshalb von Ur-Spur, da es „gilt, die Spur vor dem Seienden zu denken.“ (GR 82) Bedeutung wird somit gleichgesetzt mit Raum-Werden und zeitlicher (nicht-linearer) Ausdehnung. Dieses Raum-Werden wird von Derrida auch ganz konkret benannt, es geht etwa um „Pause, Leerstelle, Buchstabe, Interpunktion, Intervall“ (GR 118, vgl. auch GR 123), eben um die materiellen Bedingungen jedes sprachlichen Ausdrucks oder Vorgangs. In den Blickpunkt gerät damit „das Vermittelnde, die Materialität der medialen Textualität von Bedeutung“ selbst.[13]

     Die Schrift ist nun dasjenige ‚Material’, um das es Derrida hierbei geht: „Die Exteriorität des Signifikanten ist die Exteriorität der Schrift“ (GR 29). Es geht ihm um das, was die metaphysische Logostradition seit je her aus dem System der Sprache ausgeschlossen hatte: um das Äußere, das Außen, die materielle Oberfläche, eben um die „Exteriorität“ der Schrift. Diese äußere, ober-flächliche – und ent-grenzende – Wesenhaftigkeit der Schrift überträgt Derrida auf sämtliche Vorgänge der Signifikation: es geht um die „Exteriorität des Signifikanten“.  

     Vor der Verräumlichung und der Verzeitlichung könne es keine Form der Bedeutung geben. Die différance wird als Urspur bzw. als Urschrift als der Ursprung eines jeden Signifikationsvorgangs gedacht:

 

In Wirklichkeit ist die Spur der absolute Ursprung des Sinns im allgemeinen; was bedeutet […] daß es einen absoluten Ursprung des Sinns im allgemeinen nicht gibt. Die Spur ist die différance, in welcher das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang nehmen [Kurs. i.O.]. (GR 114)

 

Derrida beschreibt hier – zugegebenermaßen in paradoxer Weise – die Ursprünglichkeit der Schrift als „Urschrift“ (GR 99). Es gibt keine Sprache und keine Bedeutung außerhalb oder vor der Schrift (vgl. GR 78, SuG 68). Die Derrida’sche Schrift ist ursprünglich und vorzeitig, das „Erscheinen und die Bedeutung“ haben den gleichen Ursprung.[14] Die Bedeutung entsteht mit dem „Erscheinen“, also mit der Materialisation, mit der Verräumlichung und der Verzeitlichung. Das metaphysisch-ontologische Verhältnis von Essenz und Existenz wird somit umgekehrt:[15]

 

Der Bereich des Seienden strukturiert sich entsprechend den verschiedenen – genetischen und strukturalen – Möglichkeiten der Spur, ehe er als Bereich der Präsenz bestimmt werden kann. (GR 82)

 

Das „Seiende“ hat keine Existenz bzw. „Präsenz“ vor der „Spur“, es ergibt sich vielmehr aus den Möglichkeiten derselben. Es kann demnach keinen prästabilierten Sinn geben, der diesem Vorgang vorausginge. Genau das meint Derrida, wenn er schreibt, es gebe keinen absoluten Ursprung des Sinns (vgl. GR 114). Dennoch bedeutet die Zurückweisung des einen Sinns bzw. der einen Bedeutung nicht, dass es überhaupt keine Bedeutungen geben könne. Im Gegenteil: Im Denken Derridas impliziert jeder sprachliche Ausdruck, jedes Verweisen von Signifikanten auf andere Signifikanten die Möglichkeit prinzipiell unendlicher Bedeutungspotenziale (vgl. GR 85, 114, 121). Ganz in diesem Sinne wird die différance auch als das „systematische Spiel der Differenzen, der Spuren von Differenzen“ (SuG 66) beschrieben. Dieses Spiel bedeutet eine „generative Bewegung“ (SuG 67): Mithilfe einer spielerischen Kombinatorik als einer „Aleatorik zufälliger Züge“,[16] die das Verweisen von Signifikanten auf Signifikanten regelt, werden Bedeutungen erzeugt (vgl. GR 17f.). Die Schrift, als Ort der Verraum-Zeitlichung wird zum „Spiel in der Sprache“ (GR 87), das Bedeutungen und Sinn generiert.

 

Derrida und das Ende der Herrschaft des Logos über die Schrift

Jacques Derridas sprachphilosophische Thesen entstehen in der Auseinandersetzung mit der abendländischen Metaphysik. Die Geschichte der abendländischen Logos-Philosophie wird von Derrida als eine Epoche des Phono-Logozentrismus beschrieben, als eine Geschichte der Herrschaft der Stimme und des Logos über die Schrift, die sich vor allem in der Verwendung der phonetisch-alphabetischen Schreibweise manifestiere. Diese Fehlentwicklung habe die gesamte abendländische Philosophiegeschichte zu der irrigen Annahme geführt, die Stimme, die phone hänge unmittelbar mit einer letztmöglichen Wahrheit, mit einem letztmöglichen Sinn zusammen. Derrida belegt diesen Befund unter anderem im Rückgriff auf Schriften Platons, Rousseaus und de Saussures. Die Bevorzugung der akustischen gegenüber der graphischen Signifikation habe zu der Annahme eines transzendentalen Signifikats geführt. Diese Fixierung auf den einen göttlichen, transzendentalen Logos bedeute jedoch eine starke Beschneidung und Einengung. Die gewaltsame Herrschaft der Stimme habe zu einer Ausgrenzung und Unterdrückung der Schrift geführt.

     Die Arbeit hat gezeigt, dass es tatsächlich sehr früh in der abendländischen Metaphysik zu einer Herabwürdigung des graphischen Ausdrucks und zu einer starken Aufwertung des lautlichen Ausdrucks kommt. Bereits im Phaidros-Dialog von Platon wird die Schrift als obskure und sinnentstellende Repräsentation der natürlich-vitalen gesprochenen Rede etabliert. Der von Derrida diagnostizierte Phonozentrismus verbannt die Schrift im Phaidros tatsächlich in den Bereich der Instrumentalität und der Technik. Diese Schriftfeindlichkeit findet sich in ganz ähnlicher Weise auch in den Grundfragen Ferdinand de Saussures. Auch dort wird die Schrift als ein prinzipiell störendes Äußeres und als pathologische Erscheinung etabliert und somit aus dem System der Sprache, aus der langue ausgegrenzt. Die moderne Sprachwissenschaft – so Derrida – schließe in ihrer phonologistischen Ausrichtung das eigentliche Wesen der Sprache, das sich – im Denken Derridas – gerade in der Schrift manifestiere, von vornherein aus.

     Weiterhin wurde der von Derrida vor allem in der Grammatologie skizzierte, neue Schriftbegriff analysiert. Es hat sich gezeigt, dass Derrida an der Konzeption einer ‚Universalschrift’ bzw. an der Einführung eines neuen Schriftbegriffs arbeitet, der die traditionelle Schriftfeindlichkeit überwindet. Methodisch bedient sich Derrida hierfür, ganz im Sinne der Dekonstruktion, des Mittels der Streichung traditioneller überkommener theoretischer Begriffe und der Einführung einer völlig neuen und damit nicht vorbelasteten Terminologie.

     Das ambivalente Verhältnis Derridas zu den Thesen de Saussures wurde nachgezeichnet, indem gezeigt wurde, dass Derrida zum einen den Zeichenbegriff de Saussures als metaphysisch verstrickten ablehnt und die These der Linearität der Sprache scharf kritisiert. Zum anderen jedoch erblickt er in der Saussure’schen These der Differentialität des sprachlichen Zeichens einen Fortschritt, den es weiterzuentwickeln gelte. Genau dieses Prinzip der Differenz wird bei Derrida zum Prinzip der différance: Bedeutung könne immer erst aus der Differenz sprachlicher Elemente entstehen – und niemals in der Form eines transzendentalen Signifikats a priori gegeben sein. Bedeutungs- bzw. sinnbildend sei allein die Verkettung prinzipiell unendlich aufeinander verweisender Signifikanten. Diese Dynamisierung der Sprache hat die faktische Auflösung des Signifikats zur Folge, da jedes Signifikat immer schon als Signifikant gedacht wird.

     Es wurde daran anschließend nachgewiesen, dass Derrida das Prinzip der différance in direktem Zusammenhang mit der Schrift als einer Urschrift bzw. Urspur entwickelt. Allein die Exteriorität der Schrift, das Raum-Werden der Signifikation verschaffe unendliche Möglichkeiten der Bedeutungserzeugung. Die Schrift als das von der Metaphysik unterdrückte und verdrängte Außen gehe jeder Form immaterieller Bedeutung voraus.[17] Vor der Schrift kann es – im Denken Derridas – nichts geben, deshalb spricht er von Ur-Schrift bzw. Ur-Spur.

     Abschließend ist zu bemerken, dass die sprachphilosophische Theorie Derridas zwar letztlich eine Arbeit gegen die Metaphysik ist und damit auch gegen Gott, da schließlich „der Name Gottes […] der Name der Indifferenz schlechthin [ist]“ (GR 124). Tatsächlich jedoch ersetzt Derrida lediglich einen Ursprungsmythos (göttliche „Indifferenz“) durch einen anderen: An die Stelle des transzendentalen Signifikats tritt bei Derrida die totale Differenzialität, die sich als vorzeitige und ursprüngliche différance – ebenso metaphysisch – der Beschreibbarkeit entzieht (vgl. GR 114, 116).

 

 

 

Quellen- und Literaturverzeichnis

 

 

Derrida, Jacques: Grammatologie, übers. v. Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt/Main 1974. [Franz. Erstausg.: De la grammatologie, Paris 1967].

 

Ders.: Die Schrift und die Differenz, übers. v. Rodolphe Gasché, Frankfurt/Main 1976. [Franz. Erstausg.: L’écriture et la différence, Paris 1967].

 

Ders.: Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva, in: Texte zur Theorie des Textes, hrsg. v. Stephan Kammer und Roger Lüdeke, Stuttgart 2005, S. 55-70.  

 

Ders.: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, übers. v. Hans-Dieter Gondeck, Frankfurt/Main 2003. [Franz. Erstausg.: La voix et le phénomène, Paris 1967].

 

Kimmerle, Heinz: Jacques Derrida zur Einführung, 3., überarb. und erw. Aufl., Hamburg 1992.

 

Lagemann, Jörg/Gloy, Klaus: Dem Zeichen auf der Spur. Derrida – Eine Einführung, Aachen 1998.

 

Platon: Phaidros oder Vom Schönen, in: Texte zur Medientheorie, hrsg. v. Günter Helmes und Werner Köster, Stuttgart 2002, S. 26-30.

 

Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, übers. v. Herman Lommel, 2. Aufl. hrsg. v. Peter von Polenz, Berlin 1967.

 

Wegmann, Nikolaus: Dekonstruktion, in: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin 1997, S. 334-337.

 

Wetzel, Michael: Derrida, Stuttgart 2010.

 

 

 



[1] Lagemann spricht recht treffend von der Derrida’schen Schrift als einem „exemplarischen Signifikanten“ bzw. als einem „prototypische[n] Signifikanten“, Lagemann/Gloy: Dem Zeichen auf der Spur, a.a.O., S. 88, 94, 121.

[2] Vgl. Nikolaus Wegmann: Dekonstruktion, in: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin 1997, S. 334-337.

[3] Saussure: Grundfragen, a.a.O., S. 82; vgl. ebd., S. 44f: de Saussure spricht von „Reihe“, „Abfolge“ und „Kette“ der Signifikanten.

[4] Vgl. auch Lagemann/Gloy: Dem Zeichen auf der Spur, a.a.O., S. 96, 117f.

[5] Saussure: Grundfragen, a.a.O., S. 135.

[6] Ebd., S. 140.

[7] Ebd., S. 143.

[8] Vgl. ebd., 142.

[9] Lagemann/Gloy: Dem Zeichen auf der Spur, a.a.O., S. 123: „Das Signifikat der alten Theorie erweist sich als verkappter Signifikant, während die Schrift als exemplarischer Signifikant nun das Wesen der Sprache erfasst“.

[10] Ein weiterer Beleg für die unscharfe Verwendung der Begriffe in der Grammatologie: Dort geht es um den „Begriff der Schrift, der Spur, des Gramma oder des Graphems“ (GR 21).

[11] Vgl. Michael Wetzel: Derrida, Stuttgart 2010, S. 26.

[12] Vgl. zu den Momenten der Verzeitlichung und der Verräumlichung auch Kimmerle: Derrida zur Einführung, a.a.O., S. 85f.

[13] Wetzel: Derrida, a.a.O., S. 27.

[14] Vgl. ebd., S. 25, 30.

[15] Lagemann spricht von einer „Hierarchieumkehr“, Lagemann/Gloy: Dem Zeichen auf der Spur, a.a.O., S. 122.

[16] Wetzel: Derrida, a.a.O., S. 26.

[17] Zum Moment der Verdrängung und Derridas Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse siehe die Abhandlung Freud und der Schauplatz der Schrift, in: Derrida: Die Schrift und die Differenz, a.a.O., S. 302-350.

 

 

Matthias Agethen studiert Germanistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.



Kommentar schreiben

Kommentare: 0