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Ist der Mensch ein »Animal Poeta«? Kupferstich von Merian, 1624.
Ist der Mensch ein »Animal Poeta«? Kupferstich von Merian, 1624.

Weltenkonzepte, Kognition und Vergegenständlichung im literaturtheoretischen Konzept einer kritisch-rationalen Literaturwissenschaft nach Karl Eibl

 

von Florian Grundei

 

Eibls Basis der Argumentation ist – wie bei Popper auch – psychisch, mental und kognitiv (also biologisch, aber nicht im Sinne Freuds) verortet und besteht in der Fähigkeit des Menschen, seine Sprache zu nutzen, um Elemente seiner Wirklichkeitswahrnehmung auf objektiver Oberfläche zu artikulieren, und sie so seiner Umwelt verständlich zu machen. Die Evolution in der Literatur entsteht für Eibl daher aus dem menschlichen Potential, sprachliche Funktionen zu verwenden und zu abstrahieren, er sieht die Neigung, »zu sprechen und eine Sprache zu erlernen«[1] als einen menschlichen Instinkt an. Es geht Eibl in Bezug auf die Sprachfähigkeit um das Phänomen der »Isolierung«[2] und »Ausdifferenzierung«[3] des Sachbezugs durch diese, um die »Vergegenständlichung«[4] von Abstrakta durch die Sprache, die zur Ausweitung der Wirklichkeitswahrnehmung führt – Eibl scheint hier die Popper’sche Welt 3 zu paraphrasieren. Er zieht als stützendes Argument neben Popper[5] die Studien des Anthropologen und Verhaltensforschers Michael Tomasello[6] heran, der die Weitergabe der Diskurse, die zu der angesprochenen Vergegenständlichung der Welt führen, als kulturellen Fortschritt, als explizit menschliche Kulturleistung versteht. Für Eibl ist klar: Das menschliche Bewusstsein, die kognitive Präsenz des Individuums in der Vielzahl seiner Funktionen, abstrahiert und transformiert durch die Sprache Theoreme, Philosopheme, also seine ›Regelmäßigkeitsannahmen‹ über die Welt und ihre Zusammenhänge – hierdurch entstehen neue Diskurse und verändern wiederum Voraussetzungen und Interpretationsmuster:

 

Regelmäßigkeitsannahmen über die Zusammenhänge der physikalischen oder der sozialen Welt machen eine rationale Erfassung natürlicher wie gesellschaftlicher Phänomene überhaupt erst möglich. Regelmäßigkeitsannahmen sind es, welche die »natürliche Hermeneutik der sozialen Lebenswelt« ausmachen, und Regelmäßigkeitsannahmen ermöglichen uns soziale Interaktion (...). Wenn Hermeneutik auf Regelmäßigkeitsannahmen unexpliziter Art rekurriert, sind diese kritisch-rationalen Prüfungsverfahren prinzipiell zugänglich. Sie können explizit gemacht und geprüft werden. (...) Soweit Hermeneutik sich nicht auf Explikation und Prüfungsprozeduren einlassen will, haftet ihr tatsächlich ein ›vorwissenschaftliches‹ Element an.[7][Hervorhebungen im Original]

 

Eibl plädiert für eine Entideologisierung der Literaturgeschichtsschreibung, indem er diese auf neue Grundlagen stellen möchte, ohne dass dabei die »Dimension der ›Geschichtlichkeit‹«[8] außer Acht gelassen wird. Diese Grundlagen entstammen zum Einen den kritisch-rationalen Prämissen Karl R. Poppers und zum Anderen einem evolutionsbiologischen Verständnis von der Kultur des Menschen als konstruierte »Zwischenwelt« – in seiner früheren Schrift »Die Entstehung der Poesie« heißt sie noch »Nichtwelt«:[9]

 

Welt soll das heißen, was durch kulturelle Definition auf die genetischen Dispositionen abgestimmt ist (– was durch die Bestimmungsleistungen sozialer Systeme hergestellt wird), Nichtwelt zusammengenommen wäre das, was der religiös-philosophische Diskurs als das ›Ganze‹, die ›Totalität‹, das ›Pan‹ bezeichnet. Auch die Welt/Nichtwelt-Grenze läßt sich an traditionelle Konzepte anschließen: Es ist die Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz, freilich als Systemimmanenz und Systemtranszendenz rein formal als metaphysische Implikationen interpretiert.[10][Hervorhebungen im Original.]

 

Die später konzipierte »Zwischenwelt« beschreibt er folgendermaßen:

 

Die Fähigkeit der mentalen Vergegenständlichung des Vorgestellten in relativer Unabhängigkeit von seinem aktuell greifbaren Realitätscharakter ist von entscheidender Bedeutung für die Menschenwelt. Sie ermöglicht es, eigene Welten zu konstruieren und auf diese selbstkonstruierten Welten hin zu handeln. Sie ist das Baumaterial dessen, was man als ›kulturelles Gedächtnis‹ oder als ›kollektives Gedächtnis‹ bezeichnet; sie stellt die Objekte gesellschaftlicher Kommunikation her und schafft jene kulturelle Zwischenwelt, die als eine Art Interface zwischen der Vielfalt menschlicher Habitate und Vergesellschaftungen und dem evolvierten Nervensystem vermittelt. Ihre Aufgabe ist die adaptionsverträgliche Interpretation der Umgebung. Mit den semantischen Werkzeugen der Zwischenwelt benennen und definieren wir Situationen so, daß unser mentaler Apparat damit umgehen kann, auch wenn er gar nicht für sie geschaffen wurde.[11]

 

In beiden Definitionen geht es um kognitive Abgrenzungsbereiche: Die Vergegenständlichung von Abstrakta in Form des ausdifferenzierten Sachbezugs der Sprache, – allgemeiner – unser differenzierter Umgang mit der sozialen Wirklichkeit, führt für Eibl innerhalb der Zwischenwelt und der Nichtwelt zu einer intellektuell eigenständigen Position, dem Selbst, oder dem Ich: Eibl spricht in diesem Zusammenhang von einer »biologisch ermöglichten«[12] und »biologisch notwendigen«[13] »Selbst-Vergegenständlichung«.[14] Unsere kognitiven Fähigkeiten sind – so behauptet Eibl wie auch Tomasello[15] – durch natürliche Selektion[16] entwickelt worden.

 

 

Identität, Individualität, Narration und Interpretation

 

Auch das Gefühl von Individualität, das »Ich« ist Teil der evolvierten Entwicklung des Menschen, was ihm – zusammen mit seiner Fähigkeit der abstrahierenden Sprache – einen exzeptionellen Status in der Natur zuweist. Sprachliche Rezeption und Produktion, Regelmäßigkeitsannahmen in Form von Diskursen in der Zwischenwelt und Problemlösungsaktivitäten, sie alle formen kognitiv individuelle Intellektualität, sie alle speisen sich aus Erdachtem und Erinnertem, sodass Eibl zur Definition gelangt: »Das Ich wäre demnach ein Aggregat von Geschichten.«[17] Den Einfluss von Narration auf uns selbst schätzt Eibl als sehr hoch ein. Das Ich als »Aggregat von Geschichten« rezipiert Geschichten – fiktionaler Art in Form von Literatur und Dichtung – und stellt sich so auf seine soziale Umwelt ein:

 

Die Biologie greift dabei auf doppelte Weise zu: Sie stellt elementare Kohärenzmittel für die Texte zur Verfügung und sie hat durch die Offenheit der menschlichen Verhaltensprogramme den Vergegenständlichungs-Bedarf geschaffen, auf den die biographischen Exempelgeschichten antworten.[18]

 

Für Eibl besteht ein anthropologisches Phänomen in der Fähigkeit des Menschen, seine Phantasie zu nutzen, um durch diese Ideen zu artikulieren, bzw. – in Bezugnahme auf unseren Interessenbereich –, ganze fiktive Welten zu erschaffen und ihnen eine Ordnung zu geben. Die Literatur ist für Eibl damit ganz eindeutig Teil der menschlichen Biologie, sie unterliegt also biologischen Prämissen, die sich evolutionär herleiten lassen.[19] Sie unterscheidet den Menschen durch die Singularität der abstrakten Sprache von anderen Lebewesen, ähnlich wie andere anthropologische Reaktionen des Bewusstseins oder Ausdrücke von Emotionalität, wie das Lachen, das Weinen, bestimmte Arten von sozialen Ängsten[20] – oder, wie er gemeinsam mit Luhmann behauptet – die Liebe[21] es sind. Sie sind für Eibl Resultat evolvierender Dynamismen im Wesen des Menschen. Den Aufbau faktualer und fiktionaler Welten beschreibt Eibl als kognitiven Prozess, als »Methode des Verschnürens von Informationen«,[22] also einer Codierung, der in unterschiedlichen Kulturkreisen zur Identitätsstiftung[23] beiträgt.[24] Die kognitiven Grenzbereiche dieser Informationsaufnahme bezeichnet Eibl nach den Evolutionspsychologen Cosmides und Tooby als »Scope Syntax«[25]; übersetzt heißt dies in etwa ›gerahmter zusammenhängender Raum‹. Mit diesem Schritt begrenzt Eibl im Grunde die oben näher bezeichneten Regelmäßigkeitsannahmen. Er definiert in freier Variation des Schemas zur Erzählanalyse der Linguisten William Labov und Josuah Waletzky weiter: »Erzählen [ist] die Repräsentation einer nicht-zufälligen Ereignisfolge«.[26] Außerdem gibt es für Eibl keinen Zweifel, dass narrative Strukturen dynamischen, evolvierenden Prozessen unterworfen sind:

 

Auch für Narrationen gilt das Gesetz von Mutation und Selektion: Narrationen müssen sich ändern können, damit sie durch Selektion angepasst werden können; und sie müssen bei aller Veränderung doch mit sich selbst identisch bleiben können.[27]

 

Neben der Identitätsstiftung sieht Eibl auch in der Problematik der Auslegung von kanonisierten Erzählungen innerhalb einer Kultur ein basales Element. Es ist für ihn ein normaler Zustand, dass in Kulturräumen mit Narrationen Interpretationen derselben vorgenommen werden – Deutungen und Auslegungen, Trennungen von Faktualem und Fiktionalem. Diese Auslegungsversuche sind für Eibl Versuche der Kategorisierung der narrativen Quellen, um mit den erlangten Informationen adäquat umzugehen.[28] Außerdem beeinflussen sie – so Eibl – die Kompetenzhierarchie innerhalb der Kulturräume: Indem Erzählungen beispielsweise lediglich bestimmten Menschen zur Deutung zur Verfügung stehen und andere diese Deutungen zu befolgen haben, geht es auch immer um die Kompetenzzuordnung bei einem dogmatischen Umgang mit Erzählungen, also um ein institutionell-hierarchisches Element innerhalb des Kulturraums.[29]

 

 


[1] Eibl: Animal Poeta, S.211.

[2] Eibl: Animal Poeta, S.12.

[3] Eibl: Animal Poeta, S.229.

[4] Eibl: Animal Poeta, S.230.; vgl. ebd., S. 232-252.

[5] Vgl. Eibl, Animal Poeta, S.236.

[6] Vgl. Eibl, Animal Poeta, S.236.; vgl. Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S.38f, S.54-58. [Fortan: Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens]

[7] Eibl: Kritisch-rationale Literaturwissenschaft, S.34ff.

[8] Eibl: Kritisch-rationale Literaturwissenschaft, S.109. [Hervorhebungen im Original]

[9] Vgl. Eibl: Die Entstehung der Poesie, S.16.

[10] Eibl: Die Entstehung der Poesie, S.16.

[11] Eibl: Kultur als Zwischenwelt, S.25f.

[12] Eibl: Animal Poeta, S.273.

[13] Eibl: Animal Poeta, S.273.

[14] Eibl: Animal Poeta, S.273.

[15] Vgl. Eibl: Die Entstehung der Poesie, S.227; vgl. Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S.68-76, 253ff.

[16] Vgl. Eibl: Die Entstehung der Poesie, S.227.

[17] Eibl: Animal Poeta, S.274.; vgl. auch Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, S.253ff.

[18] Eibl: Animal Poeta, S.275.

[19] Vgl. Eibl: Die Entstehung der Poesie, S.17.

[20] Vgl. Eibl: Animal Poeta, S.190f.

[21] Vgl. zur grundlegenden These Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983, S.18f., S.47, S.51; vgl. Niklas Luhmann: Ausdifferenzierung der Kunst. In: Ders.: Schriften zu Kunst und Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008. S.401-416, hier S.408. Luhmann bezeichnet die Liebe als Teil der »symbolisch generierten Kommunikationsmedien«, also als mentales Konstrukt, mit dem wir Informationen codieren. Er konstatiert, dass Liebe auf einer »tradierten Semantik« beruhe. Im 17. Jahrhundert evolviere diese Semantik, u.a. durch neue Formen der Literatur. Vgl. ebenfalls Eibl: Animal Poeta, S.152-158.

[22] Eibl: Animal Poeta, S.255.

[23] Vgl. Eibl: Animal Poeta, S.260.

[24] Vgl. zum Thema Fiktion und Poetogenese auch Frank Zipfel: Zeichen, Phantasie und Spiel als poetogene Strukturen literarischer Funktion. In: Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Herausgegeben von Rüdiger Zymner und Manfred Engel. Paderborn: Mentis, 2004, S.51-80, hier S.77ff.

[25] Eibl: Animal Poeta, S.246.

[26] Eibl: Animal Poeta, S.255.

[27] Eibl: Animal Poeta, S.260.

[28] Vgl. Eibl: Animal Poeta, S.262.

[29] Vgl. Eibl: Animal Poeta, S.262f.

 


Florian Grundei ist Redakteur bei Texturen Online.

 

 

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