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By Christiaan Tonnis [CC-BY-SA-2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0)], via Wikimedia Commons
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Der Skeptizismus-Begriffs in Saul Kripkes Wittgenstein-Lesart – Eine Statusanalyse, erster Teil

 

von Yannick Walter

 

Problemstellung

 

Der Kern der in diesem und folgenden Artikeln zu untersuchenden Fragestellung liegt in der streitbaren Deutung von Wittgensteins Sprachverständnis, insbesondere seinem Verständnis der Regeln, die der Sprache zugrundeliegen und der Möglichkeit ihrer Anwendung durch einzelne Personen in dessen Spätwerk, den Philosophischen Untersuchungen. Diese haben in der Folge zahlreiche Interpreten auf den Plan gerufen, die aus den kurzen, in prosaischem Stil abgefassten Kapiteln, unterschiedliche Deutungen herausgelesen haben. Dies ist nicht zuletzt dem Stil des Werkes geschuldet, das aus einfachen Sätzen besteht, ohne technische oder in der Philosophie gebräuchliche Begriffe auskommt (vgl. Stegmüller 1989: 563) und so zum Teil einen aphoristischen Charakter erhält. Eine der bekanntesten Deutungen lieferte Saul Kripke, der zu zeigen versuchte, dass Wittgenstein hier ein radikal neues Konzept von Sprache entfaltet, welches er mehr oder weniger explizit den Thesen aus seinem früher erschienenen Tractatus Logico-Philosophicus entgegenstellt und in Abgrenzung entwickelt, ohne jedoch den Anspruch zu erheben, dies ebenso systematisch zu tun wie noch im Tractatus, sondern dialogisch im steten Austausch mit einem fingierten Gesprächspartner:

 

„Statt etwas anzugeben, was allem, was wir Sprache nennen, gemeinsam ist, sage ich, es ist in diesen Erscheinungen gar nicht Eines gemeinsam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden, - sondern sie sind mit einander in vielen verschiedenen Weisen verwandt. Und dieser Verwandtschaft, oder dieser Verwandtschaften wegen nennen wir sie alle ‚Sprachen‘.“ (PU 65)

 

Hier zeigt sich in Kürze die komplexe Problemdimension von Wittgensteins Spätphilosophie, die eine sehr differenzierte Sicht auf Sprache eröffnet und zugleich eine gewisse konzeptuelle Offenheit zum Kernelement des Programms macht, die viele Deutungen zu erlauben scheinen. Der entscheidende Punkt in Kripkes Rezeption dieses Programms liegt in seiner skeptischen Lesart Wittgensteins, insbesondere seines sog. Regelfolgeparadox, nach der – in nuce – es einer einzelnen, isoliert betrachteten Person nicht möglich ist, sich angemessen sprachlich auszudrücken, da sinnvolles, d.h. bedeutungsvolles Sprechen das Befolgen von Sprachregeln voraussetzt. In einer einzelnen Person würde sich jedoch nichts finden, das ihren Worten Bedeutung geben und eine solche Regel bestimmen könnte.

 

Hinführend zu einer näheren Betrachtung der Problemlage ist es daher notwendig, Wittgensteins Äußerungen zur Konzeption und Funktionsweise von Sprachen sowie eventuelle Neuerungen im Sprachverständnis zunächst möglichst textnah herauszuarbeiten, um Kripkes Argument nachvollziehen zu können. Von entscheidender Rolle für meine Abhandlung sind dabei nicht die Änderungen im Gesamtbild der Sprache, die Wittgenstein zweifelsfrei mit dem Konzept der Sprachspiele entwickelt, wie zunächst gezeigt wird. Gegenstand dieses Textes ist vielmehr ein, in der Rezeptionsgeschichte des Werkes entbrannter Streit um die Deutung eines vermeintlichen, diese Änderungen begleitenden Wandels im Fundament der gesamten Philosophie, der seine Entsprechung in einer ebenfalls geänderten metatheoretischen Einstellung zu Sprache und Bedeutung finde (vgl. Stegmüller 1986: 77). Diese ist, so ist zu zeigen, die Grundlage für Kripkes Ansicht, Wittgensteins Vorgehensweise sei skeptisch. Zahlreiche kritische Diskussionen folgerten unter anderem daraus, eine solche Lesart führe zu Relativismus oder zur Unmöglichkeit von Sprache. Die inhaltliche Dimension dieser Argumentationslinie nur am Rande beachtend, soll nachfolgend dafür argumentiert werden, dass die Debatte um den von Kripke in Wittgensteins Werk hineingelesenen ‚Skeptizismus‘ in Teilen auf ein unterschiedliches Verständnis eben jenes Begriffes zurückzuführen ist. Dieser kann jedoch in vielfältiger Weise auftreten und muss nicht per se destruktiven Charakter haben. Dem vorangestellt wird ein Überblick der wesentlichen Neuerungen und Konzepte im Bild der Sprache, die in den Philosophischen Untersuchungen eingeführt werden.

 

Sprachverständnis in den Philosophischen Untersuchungen

 

Es ist der besonderen Form des späten Hauptwerkes Wittgensteins geschuldet, dass die wesentlichen Elemente seines Denkens nicht strukturiert entfaltet werden, sondern über die gesamte Länge des Werkes immer wieder Vorwegnahmen oder nachträgliche Explikationen zu finden sind, was, wie sich zeigen wird, eine wesentliche Rolle in seiner Rezeptionsgeschichte spielt.[1] Nachfolgend soll sich im Wesentlichen an den Gliederungsvorschlag Kripkes (1987: 100) angeschlossen werden, demnach die entscheidenden Passagen über die Sprache inklusive der Auseinandersetzung mit dem Frühwerk in den §§ 1 – 137 stattfindet. Hierbei durchdringt sich die positive Entwicklung neuer Gedanken mit der Abgrenzung von alten Grundlagen aus dem Tractatus zum Teil wechselseitig. Deshalb ist eine klare Trennung in der Darstellung nur schwer umzusetzen. Zugunsten der Übersichtlichkeit soll dennoch zunächst dargelegt werden, inwiefern Wittgenstein Stellung zu seinen vormaligen Annahmen des Tractatus bezieht, um im Anschluss nachzuvollziehen, vor welchem Hintergrund er seine alternativen Gedanken im Spätwerk entfaltet. Vor dem Hintergrund andauernder Unklarheiten über die eigentliche Intention des Textes gilt es dabei zu beachten, dass jede Auslegung in gewisser Hinsicht eine eigene Deutung enthält.

 

Kritik an den Grundlagen des Tractatus

 

Wittgenstein beginnt seine Untersuchungen mit der Darstellung der von Augustinus in den Confessiones entfalteten Theorie der Sprache, nach der Wörter einer Sprache Gegenstände benennen, den einzelnen Wörtern somit eine Bedeutung zugeordnet ist, die dem Gegenstand entspricht, auf den sich das Wort bezieht. Gleich im Anschluss folgt in den nächsten Paragraphen eine deutliche Kritik an diesem Verständnis der Bedeutung, insofern „[j]ener philosophische Begriff […] in einer primitiven Vorstellung von der Art und Weise, wie Sprache funktioniert, zu Hause“ sei (PU § 2)  und eine Analogie zur Schrift erfolgt: „Denk dir eine Schrift, in welcher Buchstaben zur Bezeichnung von Lauten benützt würden“ und „daß Einer jene Schrift so verstünde, als entspräche einfach jedem Buchstaben ein Laut und als hätten die Buchstaben nicht auch ganz andere Funktionen. So einer, zu einfachen, Auffassung der Schrift gleicht Augustinus‘ Auffassung der Sprache.“ (PU 4) Dem stellt er schon im ersten Paragraphen eine Mahnung entgegen, die Verwendung der Sprache zu betrachten und nennt das Beispiel eines Käufers roter Äpfel, der die Reihe der Zahlwörter bis fünf aufsagt und bei jeder Zahl einen Apfel dazu nimmt. Die Frage nach der Bedeutung des Wortes ‚fünf‘ sei hierbei irrelevant, denn es käme allein auf den Gebrauch des Wortes ‚fünf‘ an. (vgl. PU 1). Bereits in diesen ersten Abschnitten weist Wittgenstein demnach schon auf eine Neuerung hin, die expliziert wird in seiner Aussage: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (PU 43). Wenngleich dies auch nur in einem Großteil der Fälle gelten soll, führt er weiter aus: „ich gebrauche den Namen ‚N‘ ohne feste Bedeutung. Soll man sagen, ich […] rede also Unsinn? – Sage was du willst, solange dich das nicht verhindert, zu sehen, wie es sich verhält. (Und wenn du das siehst, wirst du manches nicht sagen.) (PU 79). Diese früh einsetzende Kritik des Bedeutungsbegriffs richtet sich implizit auch gegen die Thesen des Tractatus, in dem eine Identität von Namen und den durch ihn bezeichneten Gegenständen behauptet wurde (vgl. 3.203). Dies wird in den Untersuchungen durch eine Unterscheidung zwischen dem Träger eines Namens und seiner Bedeutung aufgehoben (vgl. §43), wobei die reale Entsprechung des Namens nur den Träger betrifft, so dass auch bei dessen Wegfall die Bedeutung erhalten bleibt, womit ein Hauptmotiv im Frühwerk zur Annahme einer unzerstörbaren Weltsubstanz aufgehoben wird. (vgl. Stegmüller 1989: 570f.)

 

Analog zu dieser weitestgehenden Ersetzung der Wortbedeutung durch dessen Gebrauch, wird auch der Sinn von Sätzen „in ihrer gleichen Verwendung“ (PU 20) bestimmt, womit dieser zum „Instrument“ (PU 421), mithin zum funktionalen Mittel, wird. Auch hier liegt offensichtlich eine implizite Abkehr vom Denken des Tractatus vor, in dem der Satzsinn noch mit seinem deskriptiven Gehalt identifiziert wurde. Entsprechend der Aufgabe der direkten, abbildenden Bezüglichkeit der Sprache auf reale Sachverhalte, wird das gesamte ontologische Fundament der Sprache infrage gestellt: Insgesamt bestand die Hauptfunktion der Sprache – sowohl der Wörter als auch der Sätze – im Tractatus noch in der Deskription (vgl. Stegmüller 1989: 574; vgl. 4.01) einer klar bestimmten Welt, auf die mit eindeutigem Sinn sprachlich Bezug genommen werden kann: einfache, nicht zusammengesetzte Gegenstände bilden hier die Substanz der Welt und entscheiden über Wahrheit oder Falschheit der auf sie bezugnehmenden Sätze (vgl. 2.021-2.0212). Entsprechend könne die Welt nur auf eine einzige Weise in einfachere Tatsachen zerlegt werden, wobei diese Zerlegung zu einfachsten, d.h. elementaren Tatsachen führe; Behauptungen, die Stegmüller (1989: 565) unter den Schlagworten Absolutismus und Atomismus rubriziert. Dieses Bild der eindeutigen Zerlegbarkeit von Zusammengesetztem erfährt eine direkte Kritik, insofern er in §46 explizit auf seine ‚Gegenstände‘ rekurriert und im folgenden Abschnitt infrage stellt, dass es eine eindeutige, d.h. kontextinvariante Verwendung für das Wort ‚zusammengesetzt‘ gibt. Wittgenstein führt dafür das Beispiel des Schachbrettes heran, das man sowohl als zusammengesetzt aus 32 weißen und 32 schwarzen Feldern beschreiben kann, als auch als zusammengesetzt aus den Farben Weiß, Schwarz und dem Quadratnetzschema beschreiben kann. (§ 47). Hierin zeigt sich deutlich die neuerliche, dem Tractatus widersprechende Auffassung, dass die Welt nur beschreibungsabhängig zu erfassen ist; die Vorstellung, es ließe sich eine endgültige, zu den atomaren Einheiten eines Sachverhaltes führende Analyse angeben, muss entsprechend aufgegeben werden und entsprechende Fragen sind mit dem Hinweis auf ihren Kontext zurückzuweisen (ebd., vgl. auch Stegmüller 1989: 566); an ihre Stelle tritt daher eine antiessentialistisch-relativistische Auffassung, welche die Wortbedeutung in Abhängigkeit zum kontextuellen Gebrauch bestimmt. Dies muss notwendig zur Folge haben, dass die Sprachanalyse nicht länger der Suche nach einem ‚wahren‘ Sinn dienen kann, da dieser gänzlich geleugnet wird. Dem Begriff der Analyse kommt mithin nur noch eine ‚therapeutische‘ Bedeutung zu, insofern sie beim Ausräumen sprachlicher Missverständnisse diene (dazu: Stegmüller 1989: 569).

 

Es ist eine naheliegende Konsequenz, dass bei einer Preisgabe der ontologischen Voraussetzungen aus dem Tractatus zugunsten einer relativistischen, am Gebrauchskontext orientierten Sprachauffassung auch die Forderung nach einem Exaktheitsideal nicht länger zu halten ist: „Ein Ideal der Genauigkeit ist nicht vorgesehen; wir wissen nicht, was wir uns darunter vorstellen sollen – es sei denn, du selbst setzt fest, was so genannt werden soll.“ (§ 88). Auch hier wird die Kontextabhängigkeit anhand von Beispielen verdeutlicht, etwa, dass eine gewöhnliche Uhr die exakte Zeitangabe gibt, wenn es darum geht, pünktlich zum Essen zu erscheinen, auch wenn sie nach den Standards der Zeitbestimmung im Labor eher ungenau ist. Die gleiche Festlegung der Fiktion von Exaktheit gilt entsprechend auch für Worte und Sätze, wie Wittgenstein in Hinblick auf die zwischenmenschliche Kommunikation betont (vgl. §§ 79, 87): In einer konkreten Situation kann ein Begriff eine genügend scharfe Bedeutung aufweisen, die durch Erklärungen weiter präzisiert werden kann, insofern sie tatsächlich aufgetretene Missverständnisse ausräumen kann. Deutlich weist Wittgenstein jedoch darauf hin, dass dies nicht für jedes denkbare Missverständnis möglich ist (vgl. Stegmüller 1989: 567). Kommunikation ist mithin immer ein Raum von Vagheit, die nicht über eine eindeutige Bezugnahme auf die Welt ausgeräumt werden kann, ebenso wie es unmöglich ist, den Sinn von Propositionen eindeutig zu bestimmen. Vielmehr ist die Welt abhängig von Beschreibungen, die durch sprachliche Artikulation im zwischenmenschlichen Austausch geprägt werden und somit Raum für Zweifel und Ungenauigkeit lassen.

 

Sprachspiele

 

Wie im vorangegangenen Abschnitt deutlich wird, rückt in den Philosophischen Untersuchungen der dynamisch-prozessuale Charakter der Sprachanwendung in den Fokus von Wittgensteins Überlegungen. Dies zeigt sich deutlich in der zentralen Konzeption der Sprachspiele, die zu Beginn der Untersuchungen dem augustinischen Sprachverständnis entgegengestellt werden. Der Vorgang des spielerischen Erlernens ihrer Muttersprache bei Kindern, bei dem sie gezeigte Gegenstände benennen oder nachsprechen, steht hier paradigmatisch für die gesamten Tätigkeiten im Zusammenhang mit Sprache, die entsprechend Sprachspiele genannt werden. Dabei soll „[d]as Wort ‚Sprachspiel‘ […] hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil einer Tätigkeit, oder einer Lebensform“ sei (§ 23). Hierin wird der aktiv-dynamische Charakter der Sprachtätigkeit deutlich hervorgehoben und mit ihr offensichtlich die Kommunikation in den Mittelpunkt gerückt, auch insofern die Lebensform in Abgrenzung zum einzelnen Sprachspiel die Gesamtheit sozialer, sprachlicher Praxen zwischen Personen umfasst (vgl. § 19). Sinn bekommt das Sprachspiel also durch den Kontext menschlicher, auch nichtsprachlicher, Praxen. Auch, weil festgelegte Grenzen für ihren Gebrauch nicht zu ziehen sind; eine Eigenschaft, die ebenfalls ihre Bezeichnung als ‚Spiel‘ rechtfertigt (vgl. § 66). Die Tätigkeit selbst kann sich in ihrer Form unterscheiden, insofern das Sprachspiel jede sprachliche Äußerung innerhalb einer konkreten Situation umfasst (vgl. u.a. § 23). Sprachliche Verständigung ist somit, ebenso wie schon der Spracherwerb, immer eine gesellschaftliche Tätigkeit, die in ihrem Vollzug Inhalt und Gebrauch von Wörtern und Sätzen erst festlegt; wie bereits erwähnt, schließt dies die Möglichkeit fehlerhafter oder missverständlicher Verständigung ein. Eine zentrale Rolle zur Regelung des Sprachgebrauchs kommt entsprechen Regeln zu, die Wittgenstein in Analogie zum Schachspiel einführt: „Aber wir reden von ihr [der Sprache; Y.W.] so, wie von den Figuren eines Schachspiels, indem wir Spielregeln für sie angeben, nicht ihre physikalischen Eigenschaften beschreiben.“ (§ 108) Nicht die Bedeutung des Wortes selbst ist demnach wesentlich, sondern seine Funktion im Kontext einer regelbasierten Sprache: Anknüpfend an das Beispiel der Farbe Rot aus dem ersten Paragraphen, findet sich so später die Antwort auf die Frage, wie denn jemand erkennen könne, dass eine Farbe Rot sei in der Aussage, man habe Deutsch gelernt (§ 381).

 

Das Problem des Regelfolgens und Kripkes skeptische Deutung

 

Die Vermittlung von Regeln folgt dem Prinzip des kontextgebundenen Vor-/ bzw. Nachmachens:

 

„So erkläre ich also, was ‚Befehl‘ und was Regel heißt, durch ‚Regelmäßigkeit‘? […] Wer aber diese Begriffe noch nicht besitzt, den werde ich diese Begriffe durch Beispiele und durch Übung gebrauchen lehren. […] Ich mach’s ihm vor, er macht es mir nach; und ich beeinflusse ihn durch Äußerungen der Zustimmung, der Ablehnung, der Erwartung, der Aufmunterung. […] Es würde darin kein Wort durch sich selbst erklärt, kein logischer Zirkel gemacht.“ (§ 208)

 

Das Lernen einer Regel wird letztlich einer Abrichtung auf eine bestimmte Reaktion gleichgesetzt (vgl. §206), wobei sich hierin bereits eine entscheidende Problemdimension zeigt: das Befolgen von Regeln, die anhand konkreter Situationsbeispiele erlernt wurden, bietet Raum zur Abweichung: „Aber wie, wenn nun der Eine so, der Andere anders auf Befehl und Abrichtung reagiert? Wer hat dann recht?“ (§ 206). Dies spricht ein in der Rezeptionsgeschichte zentrales Problem an, insofern das Problem an Regeln ist, zumal an solchen, die aus Beispielen abgeleitet werden ist, dass sie endlich sind, zugleich aber auf unendlich viele Fälle anwendbar sein müssen. Das bedeutet, dass es immer unendlich viele Handlungsmuster gibt, die mit einer Regel kompatibel sind und sie deswegen eine Handlung nicht bestimmen kann. Wittgenstein erkennt diese paradoxe Lage und folgert: „Unser Paradox war dies: eine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei. Die Antwort war: Ist jede mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen, dann auch zum Widerspruch. Daher gäbe es hier weder Übereinstimmung noch Widerspruch.“ (§ 201).

 

Saul Kripke (1987: 17 - 19) sieht in diesem Paradox zugleich das Hauptproblem der Philosophischen Untersuchungen und mithin die Einführung einer neuen Form des Skeptizismus, der in der Philosophiegeschichte ohne Beispiel ist. Er erläutert die sich ihm präsentierende Problemlage[2] anhand eines mathematischen Beispiels: So werden das Wort ‚plus‘ und das Symbol ‚+‘ für die Operation ‚Addition‘ gebraucht, die als Funktion für jedes Paar von positiven ganzen Zahlen definiert ist. Erfasst werde die Regel der Addition durch die äußere symbolische Wiedergabe und durch die innere geistige Wiedergabe, womit durch die aus endlichen durchgeführten Rechnungen abgeleitete Regel festgelegt werde, wie die Antworten auf beliebig viele neue Rechnungen lauten. Es ist demnach die bisherige Intention, welche die Lösungen für neue Fälle in der Zukunft festlege; entsprechend müsste die zu erwartende Antwort auf die (bisher noch nicht durchgeführte) Additionsaufgabe ‚68 + 57‘ ‚125‘ sein, auch wenn man bisher nur Zahlen bis 57 verwendet hat. Seiner Ansicht nach im Sinne Wittgensteins führt Kripke hier jedoch einen skeptischen Einwand ein, der zwar zugesteht, dass man bisher bei durchgeführten Rechnungen mit Zahlen kleiner als 57 gemäß der summenbildenden Addition gehandelt habe, es aber möglich wäre, dass man den bisherigen Gebrauch von Wort und Symbol falsch interpretiert hätte. Eigentlich hätte man demnach immer eine Funktion ‚quus‘ gemeint, die beispielsweise festlegt:

 

 x quus y = x plus y, wenn x, y < 57

 

x quus y = 5 in allen anderen Fällen.[3]

 

Ziel des Skeptikers ist dabei nicht, eine mathematische Fehlleistung vorzuwerfen, sondern einen Interpretationsfehler der vergangenen Intention: Gemäß dem von Wittgenstein eingebrachten Problem des korrekten Regelfolgens gibt es zu jeder Standarddeutung einer Regel eine endlose Anzahl an nicht-Standarddeutungen, die alle im Einklang mit der Regel stehen, wegen der bisher nur endlichen Erfahrung (Stegmüller 1986: 18f.). Die Herausforderung des Skeptikers besteht nun darin, dass eine Tatsache zu erbringen ist, aus der folgt, dass man gemäß seiner bisherigen Intention handelt, warum also nicht eine beliebige andere Regel gelten sollte.

 

Es ist zu beachten, dass es sich hierbei nicht um ein rein erkenntnistheoretisches Problem handeln soll, das die Schwierigkeit behandelt, eine Tatsache in vergangenen Intentionen oder Verhaltensmustern auszumachen, die einen Unterschied macht zwischen dem plus-Meinen und einem beliebigen quus-Meinen. Vielmehr geht es Kripke darum mit Wittgenstein zu zeigen, dass es einen solchen gar nicht gibt (vgl. Kripke 1987: 33f.). Kripke führt in der Folge seiner Argumentation einen entsprechenden Nachweis dafür, dass Neigungen dazu, etwas mit gewissen Bedeutungen zu meinen in keiner Weise zu rechtfertigen sind. Dafür nennt er eine Reihe von Beispielen als Beleg dafür, dass alle infrage kommenden Begründungen dieser Tatsachen, die sich im Individuum finden lassen dem skeptischen Einwand ausgeliefert sind, es entsprechend an allem Mentalen, wie Ideen oder Repräsentationen, und allem Naturalen, wie Verhaltensdispositionen nichts gibt, was determinieren könnte, wie ein bestimmter Begriff in einer neuen Situation zu gebrauchen ist; allen sei mithin gemein, dass ihnen eine Eigenschaft fehlt, die über sie selbst hinausweist[4], insofern sie eine normative Auskunft über das richtige Verhalten in anderen Situationen geben können (vgl. Esfeld 2003: 128f.).[5] Stegmüller (1986: 10) schlägt entsprechend eine Formulierung der skeptischen These in drei zentralen Fragestellungen vor: Worin besteht das Faktum, dass man dieser Regel und keiner anderen folgt? Worin besteht das Faktum, dass ich mit einem Wort etwas Bestimmtes meinte oder meine? Worin besteht das Faktum, dass ich einen bestimmten Begriff erfasst habe? Kripke kommt zu dem Schluss, dass es das hier gesuchte Faktum nach Wittgenstein gar nicht gibt.

 

Dies schließe letztlich aus, dass eine einzelne, im Sinne einer isolierten Person überhaupt etwas meinen kann, insofern eine inhaltlich invariante Begriffsbedeutung nicht möglich ist, wie bereits gezeigt wurde, weshalb ein diachron kohärenter Begriffsgebrauch in rein individueller Hinsicht nicht gerechtfertigt werden könne. Das sei damit gemeint, wenn Wittgenstein im Anschluss an die Formulierung des Paradox‘ verneint, dass einer Regel „privatim“ (PU § 202) gefolgt werden könne. Kripke schlägt deshalb auch vor, diese Feststellungen als Vorausdeutung auf das in den anschließenden Kapiteln der Untersuchungen entfaltete sog. Privatsprachenargument zu lesen, auf das an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden soll, jedoch noch einmal Erwähnung finden wird. Anhand des Beispiels des Regelbefolgens, so folgert Kripke später, mache Wittgenstein also die basale Fokusverschiebung von der Betrachtung der Sprache im Hinblick auf die Möglichkeit der Bezugnahme eines als isoliert angenommenen Individuums auf die Welt hin zu einem sich in der kommunikativen Praxis erschöpfenden Sprachbildes deutlich, insofern er deutlich ausschließt, dass eine einzelne Person einer Regel Folge leisten kann, da sich in ihr allein nicht die zum korrekten Sprachgebrauch notwendigen Kriterien finden können. 

 

Literatur

 

Baker, Gordon P. & Peter M. S. Hacker (1984): Scepticism, Rules and Language. Oxford: Basil Blackwell.

 

Bridges, Jason (o.J.): Rule-Following Skepticism, properly so called. Noch unveröffentlicht; erscheint in: Andrea Kern & James Conant (Hrsg.): Skepticism, Meaning and Justification. London; New York: Routledge.

 

Conant, James (2012): Spielarten des Skeptizismus. In: Markus Gabriel (Hrsg.):Skeptizismus und Metaphysik. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 28. Berlin: Akademie-Verlag. S. 21-72.

 

Dilman, Ilham (2004): Wittgenstein and the Question of Linguistic Idealism. In: Denis McManus (Hrsg.): Wittgenstein and Scepticism. London; New York: Routledge.

 

Esfeld, Michael (2003): Regelfolgen 20 Jahre nach Kripkes Wittgenstein. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, 57. S. 128-138.

 

Gadenne, Volker (2011): Wissen wir etwas über die Zukunft? David Hume und das Induktionsproblem. In: Aufklärung und Kritik, I. S. 85-98.

 

Hume, David (1989) [1739-40]: Ein Traktat über die menschliche Natur. Buch I: Über den Verstand. Hamburg: Meiner.

 

Hume, David (1993) [1748]: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand. Hamburg:Meiner.

 

 

 

Kripke, Saul (1987) [1982]: Wittgenstein über Regeln und Privatsprache. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

 

Soames, Scott (1997): Skepticism about Meaning: Indeterminancy, Normativity, and the Rule-Following Paradox. In: Ali A. Kazmi (Hrsg.): Canadian Journal of Philosophy, Supplementary 23. S. 211-249.

 

Soames, Scott (1998): Facts, Truth Conditions, and the Skeptical Solution to the Rule-Following Paradox. In: Philosophical Perspectives, 12. S. 313 – 348.

 

Stegmüller, Wolfgang (1986): Kripkes Deutung der Spätphilosophie Wittgensteins. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag.

 

Stegmüller, Wolfgang (1989): Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Bd. 1. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag.

 

Wittgenstein, Ludwig (1984a) [1921]: Tagebücher 1914-16. In: Werkausgabe, Bd. 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

 

Wittgenstein, Ludwig (1984b) [1921]: Tractatus logico-philosophicus. In: Werkausgabe, Bd. 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

 

Wittgenstein, Ludwig (2003) [1953]: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

 

Wright, Crispin (1984): Kripke’s Account of the Argument Against Private Language. In: The Journal of Philosophy, Vol. 81, No. 12. S. 759 – 778.

 

 

 

 


[1] Wittgenstein selbst gesteht ein, dass ihm eine stringente Verknüpfung nie gelungen ist, er jedoch eingesehen habe, dass es der „Natur der Untersuchungen“ geschuldet sei, da sie dazu zwinge, „ein weites Gedankengebiet kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen.“ (Wittgenstein 2003: 7)

[2] Kripke macht deutlich darauf aufmerksam, dass er nicht den Anspruch hat, eine vollständige, textnahe Interpretation zu liefern; er präsentiert es stattdessen als „Wittgensteins Argument, wie es auf Kripke gewirkt und für Kripke ein Problem aufgeworfen hat.“ (Kripke 1987: 15f.)

[3] Aus pragmatischen Erwägungen lässt Kripke den Skeptiker nicht am Gebrauch der anderen Symbole zweifeln, ebenfalls nicht am gegenwärtigen Gebrauch des Wortes ‚plus‘ resp. ‚+‘ (vgl. Kripke 1987: 22).

[4] Bei Wittgenstein selbst findet sich eine Passage, in der er auf das Fehlen einer „übermäßigen Tatsache“ (PU § 192) im Kontext des Erfassens von Wortverwendungen hinweist, die als möglicher Hinweis für die kripke‘sche Sichtweise gesehen werden kann (vgl. dazu auch: Stegmüller 1986: 71).

[5] Nachfolgend wird aus Gründen der Stringenz nicht auf die von Kripke angeführte Argumentation eingegangen, da es für die weitere Argumentation nicht von Belang ist, welche Möglichkeiten Wittgenstein in der Deutung Kripkes ausschließt. Wichtig ist allein der Fakt, dass er alle, auch potenziell weitere Möglichkeiten verwirft. Tatsächlich fehlt jedoch ein Nachweis dafür, dass die aufgeführten Optionen erschöpfend sind (vgl. Stegmüller 1986: 68).

 

Yannick Walter studiert Philosophie in Leipzig und St.Andrews.

 

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