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50 Jahre »Der eindimensionale Mensch«. Die Thesen Herbert Marcuses aus literaturwissenschaftlicher Sicht
von Florian Grundei
Herbert Marcuses Schrift »Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft« hat seit ihrem Erscheinen 1964 eine enorme Wirkungskraft entfalten können. Ziel dieser Abhandlung soll eine literaturwissenschaftliche Perspektivierung des »Eindimensionalen Menschen« sein.
»Entsublimierung«
Der von Marcuse verwendete Begriff »Entsublimierung« setzt die Definition seines Antonyms voraus: Als »Sublimierung« versteht Herbert Marcuse jenen Zustand einer Kultur – und die Literatur ist hier ein zentraler Teil dieser Kultur –, der fähig ist zur Negation der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die von Marcuse beschriebene vergangene zweidimensionale Gesellschaft, die sich in einem permanenten – sich unter anderem durch Kunst und Literatur äußernden – Widerspruch zwischen der »höheren Kultur« und der »gesellschaftlichen Realität«[1] befand, ist durch den Akt der »repressiven Entsublimierung« in eine eindimensionale Gesellschaft transformiert worden, indem sie sich die »zweidimensionale Kultur (…) unterschiedslos einverleibt«[2] hat und so nach Ansicht Marcuses einen Zustand der Kritiklosigkeit etablierte, der letztlich in eine totalitäre Gesellschaftsform mündet, in dem sich das Individuum mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln des technologischen Fortschritts selbst entmündigt:
Künstlerische Entfremdung ist Sublimierung. Sie bringt die Bilder von Zuständen hervor, die mit dem bestehenden Realitätsprinzip unvereinbar sind, die aber als Bilder der Kultur erträglich, ja erhebend und nützlich werden. Jetzt wird diese Bilderwelt außer Kraft gesetzt.[3]
Marcuse hat den Text »Der eindimensionale Mensch« in den beginnenden 1960er Jahren geschrieben, 1964 erschien er in den Vereinigten Staaten. Der Text ist einer Situation der Konfrontation zweier politischer Systeme verfasst worden, denen Marcuse beiden eine extreme repressive Energie attestiert: Der erste Satz der Schrift spricht bereits von der »atomaren Katastrophe« und der »Verewigung jener Gefahr« durch die eindimensionale Gesellschaft.[4]
Für Marcuse ist die oben beschriebene »höhere Kultur« eine Kultur, die zwar in ihrer Infrastruktur und Distribution für die Massen der Gesellschaft unzugänglich war – nicht zuletzt auch durch die fehlenden Bildungsanstalten für die Bevölkerung –, die es jedoch vermochte, jene »künstlerische Entfremdung« zu erzeugen, die für eine kritische Betrachtung der Gegenwart essentiell ist. Kunst repräsentiert für Marcuse eine eigene Wirklichkeit, in der sie eine andere Wirklichkeit negiert. In seinen nachgelassenen Schriften findet man den Aufsatz »Kunst und Befreiung«. Hier stellt Marcuse nochmals auf, was genau seine Vorstellung von einer zweidimensionalen Kultur ist:
Die Kunst ist Teil des Bestehenden; sie spricht, als Teil des Bestehenden, gegen das Bestehende – widerspricht ihm. Dieser Widerspruch ist der Kunst inhärent; er ist aufgehoben im Kunstwerk, in seiner ästhetischen Form, die noch den »neutralen« Inhalt von dem Bestehenden dissoziiert, ihm entgegenstellt. So reflektiert sich im Kunstwerk die Not und Notwendigkeit der Veränderung – reflektiert sich in der ganzen Vielheit der Formen, Stile und Sprachen.[5]
In diesem Aufsatz definiert Marcuse zudem klar, teils klarer als im »Eindimensionalen Menschen«, die Begrifflichkeiten »Sublimierung« und »Entsublimierung:
Die Idee des Schönen ist die Einheit von Sublimierung und Entsublimierung in der Kunst.
Entsublimierung: – Das Schöne ist Objekt libidinöser Kathexis [d.i. die energetische Bündelung, Anm.d.A.]; es ist primärer Bereich des Eros. In seinem Bann unterwerfen sich die Individuen ihrer Leidenschaft, ihrer Begierde; sie vergessen sich als Bürger, als Herrscher, als Atom der Masse. Aber: die Begierde wird nicht befriedigt, oder, falls befriedigt, bringt das Unglück.
Sublimierung: – Im œuvre wird das Schöne zur Form des Werkes: aesthetische Form, aesthetischer Genuß. Und in dieser Form sagt die Kunst ihr Nein zum Bestehenden. Die Sublimierung wird zur Anklage; in ihr liegt das radikale Element der Kunst. […] Die Sublimierung wird zur Schranke der Entsublimierung: Diese vollzieht sich im Rahmen der sublimierten Welt. Nur gesellschaftliche Schranke? Erst die Schranke gibt der Entsublimierung ihre Kraft (die Kraft des Negativen, der Rebellion): Die ihre gesellschaftlichen Fesseln abwerfenden Menschen bewahren die Transzendenz der Libido zum Eros und zu seiner Verkettung an den Tod. (To paraphrase Hegel:) Wenn die Individuen ihre Begierden befriedigen, ist die Stunde ihrer Erfüllung die Stunde ihres Todes.[6]
Sublimierung sieht Marcuse also als für eine kritikfähige Gesellschaft notwendige künstlerische Entfremdung an, in Form einer Erhöhung eines Stoffes in eine andere Sphäre, um sie somit dem Individuum evident zu machen. Mit der Stärkung des Begriffs »Sublimierung« rekurriert er epigonisch auf Denkmuster Aristoteles’, Kants und Schillers (»das Erhabene«).
Kunst repräsentiert in den Augen Marcuses eine eigene Wirklichkeit, in der sie eine andere Wirklichkeit negiert. Das Leben in seiner Singularität der Wahrnehmung lässt uns Dinge unterschiedlich interpretieren und annehmen, sie hinterfragen und auflösen. Eben jene Fähigkeit der Kritik sieht der Autor Marcuse im Untergang begriffen – »entsublimiert« –, m.a.W. auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Die Möglichkeit der Kritik ist der offene Widerspruch einer zweidimensionalen Kultur, ihre Dialektik. Die »unterschiedslose Einverleibung« jeder Art von Kunst in die gegebenen sozialen Zustände stellen für Marcuse den Nährboden dar für eine sich verewigende, kritiklose Gesellschaft, einer neuen Form des Totalitarismus, die dem Menschen der westlichen Hemisphäre der beginnenden 1960er Jahre – also dem Menschen der Jahrhunderthälfte des demokratischen Kapitalismus – seine Individualität vor allem durch Konsum suggeriert.[7] Das Leben in einer zweidimensionalen Gesellschaft gestaltete sich laut Marcuse dagegen getreu Nietzsches Ausspruch »Die Wahrheit ist hässlich: Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.[8]« anders.
Die Kunst im Sinne von Nietzsches Verständnis als Korrektiv zu Etwas, scheint für Marcuse verlorenzugehen im Vollzug der Fügung des Menschen in ein (ökonomisches) System, ohne die Wagnis einzugehen, dieses zu hinterfragen, da das System selbst implizit repressiv und totalitär ist. Marcuse konnte daher den sich in den 1960er Jahren formierenden Widerstand der Studentenschaften unumschränkt unterstützen. Der Wahrheitsbegriff Marcuses ist bestimmt von der Beschreibung eines Formbegriffs, der durch seine antagonistische und dialektische Verfasstheit zwischen der Vernunft und der Wirklichkeit steht. An diesen Orten findet – so die These Marcuses – die Kunst ihren Platz.
Der Kampf um die Wahrheit ist ein Kampf gegen Zerstörung, für die »Rettung« des Seins […]. Sofern der Kampf um Wahrheit die Wirklichkeit vor Zerstörung »bewahrt«, verpflichtet und engagiert die Wahrheit die menschliche Existenz. Sie ist der wesentlich menschliche Entwurf. Wenn der Mensch gelernt hat zu sehen und zu wissen, was wirklich ist, wird er im Einklang mit der Wahrheit handeln, Erkenntnistheorie ist an sich Ethik, und Ethik ist Erkenntnistheorie.[9]
Kulturbegriffe
Die höhere Kultur des Westens – zu deren moralischen, ästhetischen und gedanklichen Werten sich die Industriegesellschaft immer noch bekennt – war im funktionellen wie historischen Sinne eine vortechnische Kultur. Ihre Verbindlichkeit ging hervor aus der Erfahrung einer Welt, die nicht mehr besteht und die nicht wiedererlangt werden kann, weil sie von der technischen Gesellschaft in einem strengen Sinne außer Kraft gesetzt wird. Zudem blieb sie weitgehend eine feudale Kultur, auch wenn es während der bürgerlichen Periode zu einigen ihrer nachhaltigsten Formulierungen kam. Sie war nicht nur feudal, weil sie auf privilegierte Minderheiten begrenzt blieb, und nicht nur, weil ihr ein romantisches Element innewohnte […], sondern auch deshalb, weil ihre authentischen Werke, eine bewusste, methodische Entfremdung von der ganzen Geschäfts- und Industriesphäre und ihrer kalkulierbaren und einträglichen Ordnung ausdrückten.[10]
Sprache und Literatur im vortechnischen Zeitalter sind für Herbert Marcuse artifizielle Maskeraden, die eine Ordnung darstellen, die »von einer anderen Dimension« überschattet wird.[11] Diesen Schatten erklärt sich Marcuse mit der Darstellung von »auflösenden Charakteren«[12] der gesellschaftlichen Peripherie, der hierarchischen Verlierer und tragischen Figuren, die diese Gesellschaft hervorbrachte. In der Darstellung der Lebensart und –weise dieser »auflösenden Charaktere« haben die großen ErzählerInnen der »vortechnischen« Gesellschaft einen – von Marcuse positiv bewerteten – Akt der bewussten Entfremdung betrieben, artifizielle Aufklärung im Rahmen ihrer Weltanschauung geleistet, wes Geistes Kind diese auch immer war. Marcuse vergleicht nun die Helden der »vortechnischen« mit jenen der Gegenwart der »technischen« Gesellschaft:
Freilich sind diese [oben genannten, Anm.d.A.] Charaktere nicht aus der Literatur der fortgeschrittenen Industriegesellschaft verschwunden, aber sie überleben wesentlich verändert. Der Vamp, der Nationalheld, der Beatnik, die neurotische Hausfrau, der Gangster, der Star, der charismatische Industriekapitän üben eine Funktion aus, die von ihrer kulturellen Vorläufer sehr verschieden ist, ja im Gegensatz zu ihr steht. Sie sind keine Bilder einer anderen Lebensweise mehr, sonder eher Launen oder Typen desselben Lebens, die mehr als Affirmation denn als Negation der bestehenden Ordnung dienen.[13]
Marcuses These ist bestimmt von einem Kulturbegriff, der die Gegenwartskultur der 1960er Jahre als anämische Inszenierung interpretiert. Kultur ist für Marcuse zum Steigbügelhalter eines Systems degradiert worden, das das Leben der Menschen der westlichen Hemisphäre kollektiv-konformistisch zu formieren trachtet. Der Mensch in der vortechnischen Gesellschaft – zwar existentiell ungleich bedrohter als der moderne Mensch – brachte Marcuses Ansicht nach eine Literatur zutage, die den »Rhythmus und Inhalt eines Universums«[14] positiv zu verarbeiten wusste. Die Menschen hatten laut Marcuse Zeit und Lust, »nachzudenken, etwas zu betrachten, zu fühlen und zu erzählen«.[15] Diese Fähigkeit spricht er – und hier ist er unverhohlen Kulturpessimist, wie Oswald Spengler kein besserer hätte sein können – dem modernen Menschen ab. Eine Negation der Wirklichkeit in der Moderne sei nur noch eine
pseudo-avantgardistische Kunst, die nur in der Zerschlagung der ästhetischen Form ihre Substanz hat. Sie mag getreu genug die Gesellschaft widerspiegeln, in der die Subjekte und Objekte zerschlagen, atomisiert, der Worte und Formen beraubt werden. Aber mit dem Verzicht auf die ästhetische Transformation werden diese Werke zu Fetzen und Fragmenten eben jener Wirklichkeit, deren Anti-Kunst sie sein wollen. So ist es ihnen verwehrt, das destruierende Ganze in den Blick zu bekommen: Sie werden zu abstrakten Kunststücken.[16]
Nachdenken über die Moderne birgt ein dialektisches Potential. Die Moderne zu denken ist ohne die Analyse der radikalen Ablehnung derselben schwer möglich. Aus antimodernen Stimmen, die vielleicht gerade deswegen heute als Stimmen der Moderne bewertet werden, rekurriert auch Marcuse sein Kaleidoskop der Gegenstimmen (so z.B. Barthes, Brecht oder George). Bestärkt wird Herbert Marcuses These von Theodor W. Adorno, der in seinem Essay »Kulturkritik und Gesellschaft« schreibt:
Kulturkritik kann aber nur darum so eindringlich der Kultur ihren Verfall als Verletzung der reinen Autonomie des Geistes, als Prostitution vorwerfen, weil eben Kultur selber in der radikalen Trennung geistiger und körperlicher Arbeit entspringt und aus dieser Trennung, der Erbsünde gleichsam, ihre Kräfte zieht. Wenn Kultur die Trennung bloß verleugnet und unmittelbare Verbundenheit mimt, fällt sie hinter ihren Begriff zurück. Erst der Geist, der im Wahn seiner Absolutheit vom bloß Daseienden ganz sich entfernt, bestimmt in Wahrheit das bloß Daseiende in seiner Negativität: solange nur in Geringes vom Geiste noch im Zusammenhang der Reproduktion des Lebens verbleibt, wird er auf diesen auch vereidigt.[17]
Und weiter:
Wird Kultur einmal als Ganze akzeptiert, so ist ihr bereits das Ferment der eigenen Wahrheit entzogen, die Verneinung.[18]
Vielleicht ist Adorno mit seiner These noch radikaler als Marcuse, spricht er doch beispielsweise der Lyrik nach dem industriellen Genozid an den europäischen Juden die Existenzberechtigung ab; diese Absprechung erfolgt parallel zur These Marcuses einer im Entstehen begriffenen neuen »eindimensionalen« Gesellschaft, deren totalitäre Struktur von den Totalitarismen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Prägung erhielt. Der wohl am häufigsten zitierte Satz Adornos beschreibt das Wesen einer Kultur am Scheideweg:
Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation.[19]
Die Strömung des Dada, dieser »Zurückweisung der Rede«[20], wie es Marcuse nennt, hat – verbunden mit eine radikale Abkehr von gesellschaftlichen Konventionen – die sozio-historischen Entwicklungen einer Gesellschaft im Ersten Krieg wahrgenommen, begleitet und kritisch hinterfragt. Diese Hinterfragung scheint in den Augen von Marcuse und Adorno nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges offensichtlich zu fehlen, die autobiographischen Referenzen, die Wunden der Verfolgung durch den Faschismus und die Situation des Sich-Wiederfinden-Müssens im Exil, die beide Autoren erlebt haben, treten hier offen zu Tage.
Leben in der Kulturlandschaft
Der Mensch hat in seiner Geschichte ständig neue Techniken zur Kultivierung der Natur entwickelt und diese verwendet: Techniken der Domestizierung, des Handwerks und des Handelns, die die Grundlage eines gesellschaftlichen Zusammenlebens ermöglichten. Die feudalistische Gesellschaft in ihrer Fokussierung auf den primären, agrarkulturellen Sektor, hat sich im 18. Jahrhundert begonnen zu wandeln. Die Dampfmaschine veränderte diese bisher starr auf Agrikultur fokussierte Welt fundamental. Der Mensch hat daraufhin die Natur und ihre Rohstoffe in einem Maße auszubeuten begonnen, wie man es noch nicht kannte. Diese Entwicklung mündete in die Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende Industrie- und Kulturlandschaft. Mit dieser Entwicklung hat sich der Mensch der westlichen Hemisphäre seiner letzten natürlichen Räume entledigt, entstanden ist ein landschaftliches Kunstprodukt: Eine Natur im eigentlichen Sinne wurde so zum Mythos, von den Dichtern der Romantik besungen und ersehnt, doch scheinbar unwiederbringlich verlorengegangen. Marcuse beschreibt dies so:
Die künstlerische Entfremdung erliegt mit den anderen Weisen der Negation dem Prozeß technologischer Rationalität. Der Wandel offenbart seine Tiefe und das Maß, indem er unwiderruflich ist, wenn er als Ergebnis des technischen Fortschritts angesehen wird. Die gegenwärtige Stufe bestimmt die Möglichkeiten von Mensch und Natur neu, gemäß den neuen Mitteln, die ihrer Verwirklichung zu Gebote stehen, und in ihrem Licht verlieren die vortechnischen Bilder ihre Macht. (…) In der vollentwickelten Industriegesellschaft wird dieser unauflösliche Kern immer mehr geschmälert. Offenkundig hat die materielle Umgestaltung der Welt die geistige Umgestaltung ihrer Symbole, Bilder und Ideen im Gefolge. Wenn Städte, Autobahnen und Naturschutzgebiete die Dörfer, Täler und Wälder ersetzen, wenn Motorboote über die Seen rasen und Flugzeuge den Himmel durchstoßen – dann verlieren diese Bereiche offenkundig ihren Charakter als eine qualitativ andere Wirklichkeit, als Gebiete des Widerspruchs.[21]
Marcuse spricht weiter unten vom »Sog der Eindimensionalität«[22]: Das Bild der aristotelischen Mimesis – hier zeigen sich die reformativen Ansätze Marcuses an »klassischen« ästhetischen Denkmustern wie »Mimesis« oder »Sublimierung« – gelangt für Marcuse nun nicht mehr zur Geltung, da sich die oben beschriebenen Bilder und Symbole samt ihrer Ideen gewandelt haben. Die aristotelische Kraft der Mimesis zum Zwecke der Erziehung zur Mündigkeit und Tugend des Individuums ist laut Marcuse in der Moderne obsolet, da diese Art Nachahmung einem falschen Wirklichkeitsbild, nämlich jenem der technisierten Gesellschaft, nacheifert. Marcuses Faszination für Bertolt Brechts Ansatz einer auf dem sogenannten »Verfremdungseffekt« fußenden nicht-aristotelischen Dramatik kann als Reaktion auf eine technisierte Industriegesellschaft gelesen werden.
Roland Barthes These einer zerfaserten Wirklichkeit, die sich nur noch aus Sequenzen unterschiedlicher Art kulturell definiere, bestätigt Marcuse schon durch die Konstatierung, dass sich der Mensch der technisierten Kultur die Natur zum Untertan mache, sie so zerfasere und zerstöre, sodass am Ende eine Kulturlandschaft zurückbleibe, die im Menschen falsche Sehnsüchte erwecke.
Roland Barthes und Bertolt Brecht werden Gegenstand des zweiten Teils sein.
Florian Grundei ist Redakteur bei Texturen online.
Literatur
Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main: Fischer, 2003.
Barthes, Roland: Am Nullpunkt der Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985.
Brecht, Bertolt: Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik. Frankfurt: Suhrkamp, 1957 [vorliegende Ausgabe stammt aus dem Jahr 1974].
George, Stefan: Werke. Ausgabe in zwei Bänden. Bd. 2., München und Düsseldorf: Helmut Küpper vormals Georg Bondi, 1958.
Kiedaisch, Petra: Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Stuttgart: Reclam, 2006.
Linder, Christian: Fragmente der Wollust. Außenseiter und Verführer. Über Leben und Werk von Roland Barthes. In: Lettre International, Heft 82, Berlin, Herbst 2008.
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Marcuse-Werke, Bd. 3, Springe: Zu Klampen, 2004 [Nachdr. der Ausg. aus dem Suhrkamp-Verlag 1989].
Marcuse, Herbert: Kunst und Befreiung. Nachgelassene Schriften, Bd. 2, hrsg. von Peter-Erwin Jansen. Lüneburg: Zu Klampen, 2000
Marcuse, Herbert: Die Studentenbewegung und ihre Folgen. Nachgelassene Schriften, Bd. 4, hrsg. von Peter-Erwin Jansen. Springe: Zu Klampen, 2004.
Nietzsche, Friedrich: Nachlass 1887-1889. Kritische Studienausgabe, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin/New York: De Gruyter 1999.
[5] Marcuse, Herbert: Kunst und Befreiung. Nachgelassene Schriften, Bd. 2, hrsg. von Peter-Erwin Jansen. Lüneburg: Zu Klampen, 2000 [Fortan: Marcuse: Kunst und Befreiung], S.134.
[7] Zu diesem Thema gibt es eine Dokumentation der BBC: »The Century of the self«: http://www.bbc.co.uk/bbcfour/documentaries/feature
s/century_of_the_self.shtml [angesehen am 6.1.2010 auf http://video.google.de/videoplay?docid=8953172273825999151&ei=sehES47cBIeq2wKazKiqBA&q=the+century+of+the+self&hl=de#]. Es geht hier um Sigmund Freud und seinen Einfluss auf die Tendenzen des Public Relationship. Es werden auch Ausschnitte aus einem Interview mit Herbert Marcuse gezeigt.
[8] Nietzsche, Friedrich: Nachlass 1887-1889. Kritische Studienausgabe, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin/New York: De Gruyter 1999.
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