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50 Jahre »Der eindimensionale Mensch«. Teil II

Herbert Marcuse in Newton, Massachusetts (1955). Copyright holder: Marcuse family, represented by Harold Marcuse (http://www.marcuse.org/herbert/booksabout.htm) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) oder CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/li
Herbert Marcuse in Newton, Massachusetts (1955). Copyright holder: Marcuse family, represented by Harold Marcuse (http://www.marcuse.org/herbert/booksabout.htm) [GFDL (http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html) oder CC-BY-SA-3.0 (http://creativecommons.org/li

 

 

 

50 Jahre »Der eindimensionale Mensch«. Die Thesen Herbert Marcuses aus literaturwissenschaftlicher Sicht

 

 

 

 

 

von Florian Grundei 

 

 

 

Herbert Marcuses Schrift »Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft« hat seit ihrem Erscheinen 1964 eine enorme Wirkungskraft entfalten können. Ziel dieser Abhandlung soll eine literaturwissenschaftliche Perspektivierung des »Eindimensionalen Menschen« sein.

 

Literaturwissenschaftliche Aspekte und Referenzen

 

 

Bertolt Brecht: »Schriften zum Theater«

 

Die »Schriften zum Theater« bestehen aus Texten und Interviews, Anmerkungen und Notizen Bertolt Brechts zum epischen Theater. Der Band auf den Herbert Marcuse sich im »Eindimensionalen Menschen« bezieht, wurde vom damaligen Verleger des Suhrkamp Verlages, Siegfried Unseld zusammengestellt und erschien 1957 in diesem Hause.[1]

 

In den Nachbemerkungen am Ende des Bandes wird erhellend zusammengefasst –wahrscheinlich von Unseld selbst – weswegen er sich für eine derartige Zusammenstellung entschieden hatte:

 

Der Dichter Brecht wollte in erster Linie ein Handwerker sein, und wie Handwerker arbeitete er meistens in vorhandenen Materialien oder schuf sich selbst sein Material für die Bearbeitung. Seine »Schriften zum Theater« sind aus der praktischen Theaterarbeit und aus der Arbeit beim Stückeschreiben entstanden. Die Theorien sind nur in Verbindung mit dem jeweiligen Konkreten richtig zu verstehen.[2]

 

 

Die gesammelten Schriften zum Theater enthalten auch die wohl bekannteste Schrift Brechts zum Theater, das »Kleine Organon«, in dem der Dramatiker seine Forderungen für ein episches, nicht-aristotelisches Theater postuliert.

 

Die beschriebenen Faktoren, die zu der von Marcuse vermuteten mangelnden Kritik an der gegebenen politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit geführt haben sollen und den Menschen eine moderne Form der Symbolik und des Mythos angeboten haben soll, die materielle Werte als höchstes Gut des Verlangens ansehen, hätten eine Gesellschaftsform fundamental etabliert, die diese Triebbefriedigung fördert – den Hegemonialkapitalismus, dessen Machtbereiche sich bis in das Privateste des Menschen erstrecken.[3]

 

Bertolt Brecht hat die theoretischen Grundlagen für diese Anstrengungen [d.i. der Kampf um das Medium, in welchem der Widerstand zwischen »dem, was ist« und »dem, was nicht ist«, ausgefochten werden kann, Anm.d.A.,] skizziert. Der totale Charakter der bestehenden Gesellschaft stellt den Dramatiker vor die Frage, »ob die heutige Welt durch Theater überhaupt noch wiedergegeben werden kann« – das heißt so, daß der Zuschauer die Wahrheit anerkennt, die das Stück übermitteln soll. Brecht antwortet, daß die heutige Welt nur dann in dieser Weise wiedergegeben werden kann, wenn sie als veränderbar wiedergegeben wird.[4]

 

 

 

 

 

Brecht befindet sich nicht nur in seinem Nachdenken über die Wirklichkeit in einem Zustand permanenter Konfrontation, sondern muss sich ebenfalls ständig mit den Gegebenheiten des kulturellen Apparates auseinandersetzen, auf dessen Bühnen er seine Forderungen dramatisch umzusetzen versucht.

 

In einem Zeitalter, dessen Wissenschaft die Natur derart zu verändern weiß, dass die Welt schon nahezu bewohnbar erscheint, kann der Mensch dem Menschen nicht mehr lange als Opfer beschrieben werden, als Objekt einer unbekannten, aber fixierten Umwelt. Vom Standpunkt eines Spielballs aus sind die Bewegungsgesetze kaum konzipierbar.[5]

 

 

Die praktische Unzulänglichkeit des Theaterapparates der Zeit Brechts (der im folgenden zitierte Abschnitt stammt aus dem Jahr 1930/31) für die dialektische Beschreibung der Wirklichkeit veranlasst ihn schließlich zu folgender Äußerung:

 

Denn in der Meinung, sie [d.s. die Musiker, Schriftsteller und Kritiker, Anm.d.A.] seien im Besitze eines Apparates, der in Wirklichkeit sie besitzt, verteidigen sie einen Apparat, über den sie keine Kontrolle mehr haben, der nicht mehr, wie sie noch glauben, Mittel für die Produzenten wurde, also gegen ihre eigene Produktion (wo nämlich dieselbe eigene, neue, dem Apparat nicht gemäße oder ihm entgegengesetzte Tendenzen verfolgt). Ihre Produktion gewinnt Lieferantencharakter. Es entsteht ein Wertbegriff, der die Verwertung zur Grundlage hat. Und dies ergibt allgemein den Usus, jedes Kunstwerk auf seine Eignung für das Kunstwerk hin zu überprüfen. Es wird gesagt: dies oder das Werk sei gut; und es wird gemeint, aber nicht gesagt: gut für den Apparat. Dieser Apparat aber ist durch die bestehende Gesellschaft bestimmt und nimmt nur auf, was ihn in dieser Gesellschaft hält.[6]

 

 

Der Zustand »negierender Negativität«, wie Marcuse Brecht zitierend es nochmals aufnimmt, kann also in einem solchen Apparat überhaupt nicht erreicht werden, daher bedarf es der Veränderung, die jedoch nach der Auffassung Marcuses nicht stattfand – im Gegenteil – die Zustände hätten sich 30 Jahre später immer extremer gestaltet, die durch die Menschheitsgeschichte bewahrten Isotopien scheinen sich – so formuliert es Roland Barthes – in immer weitere Ferne zu bewegen, verdrängt von neuen »Objekten, die einsam und furchtbar sind«[7].

 

Marcuse verlangt eine Rückbesinnung auf die Annahme einer veränderbaren Welt, die sich gerade durch ihre inhärente Widersprüchlichkeit bewegt und sich wandelt. Ihm gehen in der von ihm beschriebenen Gegenwart die Träume verloren, die beschriebenen und besungenen Außenseiter, eben jene Charaktere, die er noch in dem Werk des (Anfang der 1960er-Jahre bereits verstorbenen) Bertolt Brecht erkennen kann. Charaktere einer vergangenen Zeit, Ausbrechende aus der verwalteten Welt, Tausendsassa und Schwerenöter wie Mackie Messer und Baal. All jene und ihre Träume sind verdrängt worden, die Stücke aufgesogen vom etablierten Apparat und letztendlich wahrscheinlich nicht so umgesetzt worden wie es der Dramatiker Brecht verlangte.[8]

 

Marcuse geht in einem kurzem Abschnitt auf den für Brecht essentiellen Effekt auf der Bühne ein, den sogenannten »Verfremdungseffekt«, von Brecht auch »V-Effekt« genannt. Wie gestaltet sich nun dieser Effekt und weswegen kann man ihn als eine praktische Umsetzung dialektischer Theorien lesen, die einem Herbert Marcuse nur sympathisch sein konnten? In den »Schriften zum Theater« sind verschiedene Aussagen Brechts zum V-Effekt versammelt:

 

(…) auch die Schauspieler vollzogen die Verwandlung nicht vollständig, sondern hielten Abstand zu der von ihnen dargestellten Figur, ja forderten deutlich zur Kritik auf. (…) Die Darstellung setzte die Stoffe und Vorgänge einem Entfremdungsprozeß aus. Es war die Entfremdung, welche nötig ist, damit verstanden werden kann. Bei allem ›Selbstverständlichen‹ wird auf das Verstehen einfach verzichtet.[9]

 

 

Brecht schreibt Theaterstücke mit dialektischen Charakteren, deren Widersprüchlichkeit beim Zuschauer nicht zur Identifikation führen sollen, sondern zur kritischen Reflexion, sodass dieser sich schließlich genötigt fühlt zu sagen:

 

Das hätte ich nicht gedacht. – So darf man es nicht machen. – Das ist höchst auffällig, fast nicht zu glauben. – Das muß aufhören. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es doch keinen Ausweg für ihn gäbe. – Das ist die große Kunst: da ist nichts selbstverständlich. – Ich lache über den Weinenden, ich weine über den Lachenden.[10]

 

 

Hier ist der zu erreichende Moment beschrieben, auf den die Theorie einer nicht-aristotelischen, »nicht auf Einfühlung beruhenden«[11] Dramatik hin zielt: der Verfremdungseffekt, der es laut Brecht allein vermag, das moderne Leben in seinen Abgründen und Widersprüchlichkeiten zu erkennen und es daraufhin einer kritischen Analyse zu unterziehen. So wie sich der Zuschauer zu fragen hat, weswegen Mutter Courage Marketenderin ist und dies bleibt, obgleich sie alle ihre Kinder im Krieg verloren hat. Sie zweifelt nicht, ihr mangelt es an Kritik, sie nimmt die Zustände hin, dem Krieg begegnet sie wie jeder anderen Begebenheit im Leben, Folgen für ihr Denken hat er nicht. Johanna Dark zweifelt zu spät, als bereits alles verloren ist, denn es war der Markt, welcher gesprochen hat und sie schließlich ikonographisch instrumentalisiert. Randfiguren, deren Widersprüchlichkeit schlichtweg notwendig scheint, um die Alternative aufzuzeigen, die zu ihrem Leid besteht.

 

Der »Verfremdungseffekt« wird der Literatur nicht von außen aufgenötigt. Er ist vielmehr die Antwort der Literatur selbst auf ihre Bedrohung durch den totalen Behaviorismus – der Versuch, die Rationalität des Negativen zu retten.[12]

 

 

Der »totale Behaviorismus« als Reiz-Reaktions-Handlung der Literatur, die eine Interpretation des Gewordenseins der Gegenwart aus aktuellen Tendenzen ziehen möchte? Diese Form der literarischen Reaktion möchte Marcuse gerne vermieden wissen, da es ihr an Negation, an Fremdheit mangelt. Wie eine angemessene, Marcuses Vorstellungen entsprechende Reaktion aussehen könnte, kann man dann nochmals bei Brecht lesen:

 

Es handelt sich hierbei [beim V-Effekt, Anm.d.A.], kurz gesagt, um eine Technik, mit der darzustellenden Vorgängen zwischen Menschen der Stempel des Auffallenden, des der Erklärung Bedürftigen, nicht Selbstverständlichen, nicht einfach Natürlichen verliehen werden kann. Der Zweck des Effekts ist, dem Zuschauer eine fruchtbare Kritik vom gesellschaftlichen Standpunkt zu ermöglichen.[13]

 

 

Die späten 1960er Jahre haben eine Fülle von Modernisierungsprozessen in die (west-)deutsche Theaterlandschaft gebracht: Claus Peymann, Johann Kresnik, Pina Bausch, Frank Castorf und andere prägen sie bis heute.

 

 

Roland Barthes: Am Nullpunkt der Literatur

 

Roland Barthes (1915-1980) war zur Zeit der Entstehung des »Eindimensionalen Menschen« eine der personae non gratae in der französischen Literaturwissenschaft, seine Texte, die als unverständlich und kryptisch bezeichnet wurden, vermochten ihm lange Zeit keine feste Stellung im universitären Betrieb Frankreichs zu verschaffen. Barthes war radikaler Nonkonformist, ließ sich von niemanden in eine Richtung drängen oder bewegen. Barthes war

 

der außenseiterische Beobachter, der sich von der »Doxologie« (das Wort hatte er bei Leibniz gefunden) fernhielt, also jener Art zu sprechen, »die dem Anschein, der Meinung oder der Praxis angepasst ist«[14]

 

 

Sein wohl berühmtester Essay »Der Tod des Autors«  sollte vier Jahre nach Erscheinen des »Eindimensionalen Menschen« veröffentlicht werden.

 

Was nun waren die Thesen Roland Barthes? Sie kommen einem Erdrutsch gleich, denn Barthes spricht der erzählten Welt einen ganzheitlichen Charakter zu, für ihn ist alles ein großes Gewebe aus bereits Verfasstem, was durch »Schreiber« lediglich neu transkribiert wird. Für Barthes existiert keine Autorschaft, für ihn existiert lediglich eine gesellschaftlich-konventionelle Art der Schreibung. Weswegen ist dies nun interessant für Herbert Marcuse? Es bestätigt ihn in seiner Annahme, dass der Mensch im 20. Jahrhundert in einer Gesellschaft lebt, in der die Bilder und Landschaften sich auf ein Raster reduziert haben, auf fragmentarische Fetzen einer ehemaligen Einheit – letztendlich beschreibt die Gegenwartsliteratur nur noch ein artifizielles Produkt. Die Vorherrschaft der Technik hat eine Sehnsucht nach dem Natürlichen ersetzt und eben jenes »unglückliche Bewußtsein« etabliert, das Marcuse in Bezug auf die Kunst im Begriff der »Entsublimierung« sieht.

 

Wenn die fortschreitende Rationalität der avancierten Industriegesellschaft dazu tendiert, die störenden Elemente von Zeit und Gedächtnis als »irrationalen Rest« zu liquidieren, dann tendiert sie auch dazu, die störende Rationalität in diesem irrationalen Rest zu liquidieren. Die Anerkennung der Vergangenheit und die Beziehung zu ihr als einem Gegenwärtigen wirkt der Funktionalisierung des Denkens durch die bestehende Realität und in ihr entgegen. Sie widersetzt sich der Abriegelung des Universums von Sprache und Verhalten; sie ermöglicht die Entfaltung von Begriffen, die das geschlossene Universum aus seiner Festigkeit lösen und es überschreiten, indem sie es als geschichtliches Universum begreifen. Der gegebenen Gesellschaft als dem Gegenstand seiner Reflexion gegenüberstellt, wird das kritische Denken geschichtliches Bewußtsein und ist als solches wesentlich Urteil. (…) Wenn dieses kritische Bewußtsein spricht, so spricht es die »Sprache der Erkenntnis« (Roland Barthes), die das geschlossene Universum der Sprache und seine versteinerte Struktur aufbricht. Die Schlüsselbegriffe dieser Sprache sind keine hypnotischen Nomina, die endlos dieselben eingefrorenen Prädikate beschwören. Sie gestatten vielmehr eine offene Entwicklung; sie entfalten ihren Inhalt selbst in Prädikaten, die einander widersprechen.[15]

 

 

Roland Barthes sieht in der Entwicklung der Sprache in der Moderne – dort ortet er die Bruchstelle um 1850, den Jahren, in denen der Schriftsteller aufgehört habe, »Zeuge eines Universellen zu sein«[16] und zu einem »unglücklichen Gewissen« wurde – eine stetige Entwicklung hin zu einer enthistorisierten Sprache, einer Sprache in Abwesenheit eines Autors. Diese Entwicklung ist laut Barthes das Resultat der Transformation von Literatur zum »fabrizierten Objekt«[17]. Der Aufstieg der Tagespresse und die Entstehung des Feuilletons: Büchner nutzte 1834 im »Hessischen Landboten« die Flugschrift als propagandistisches Mittel in Zeiten staatlicher Repression, Heine schrieb sich in seiner politischen Angriffslust gegen den preußischen Staat in sein Pariser Exil. Der Mensch in seiner Stellung zwischen Individuum und Gesellschaft, seine Kritikfähigkeit innerhalb des gesellschaftlichen Horizonts gewann an Bedeutung. Zustände können Ausdrücke hervorbringen, Begriffe stehen im Spiegel ihres historischen Gewordenseins. Marcuse konstatiert dazu, dass die zeitgenössische Sprachphilosophie,[18] die sich auf empirische Begriffe stützt, diese damit zu manifestieren versucht und ihr damit praktisch den Wandlungsprozess untersagt.

 

Schriftsteller_innen der Moderne greifen nach Barthes’ These auf ein Sprachinventar zurück, das in hohem Maße manipulierbar ist. Dieses Sprachinventar beschränkt laut Barthes die Sprachfähigkeit und entmündigt die Schriftsteller_innen der Moderne damit, da nur noch das formatiert wiedergeben kann, was bereits anderweitig beschrieben wurde. Die aristotelische Ansicht von einem Stoff und einer Idee, die dann in eine Form umgesetzt werden kann, kann für Barthes in der Moderne nicht mehr gegeben sein, da sich die zu beschreibenden Objekte in die falsche Richtung transformiert haben. Barthes’ These ist jedoch keineswegs pessimistisch, da mit dem »Tod des Autors« der Leser das Zepter der Macht in die Hand genommen hat und in sich alle Texte vereinigt. Woher diese kommen ist für Roland Barthes schlichtweg irrelevant. Es geht Barthes um eine wiedererreichte altruistische Vermittlung von Inhalten, ohne dass ein Schirm des Privaten darüber gezogen wäre.

 

Für Barthes folgen Schriftsteller_innen einer bestimmten Schreibweise, die sich aus kumulierten Konventionen entwickelten:

 

Sprache und Stil sind Objekte, die Schreibweise ist eine Funktion: sie bedeutet die Beziehung zwischen dem Geschaffenen und der Gesellschaft, sie ist die durch ihre soziale Bestimmung umgewandelte Ausdrucksweise, sie ist die in ihrer menschlichen Intention ergriffene Form, die somit an die großen Krisen der Geschichte gebunden ist.[19]

 

 

Weiter schreibt Barthes:

 

Die möglichen Schreibweisen eines bestimmten Autors entstehen unter dem Druck der Geschichte und der Tradition. Es gibt eine Geschichte der Schreibweisen, doch diese Geschichte hat eine doppelte Natur: im gleichen Augenblick, in dem die allgemeine Geschichte eine neue Problematik der literarischen Ausdrucksweise vorschlägt – oder aufzwingt –, bleibt die Schreibweise noch erfüllt von der Erinnerung an früheren Gebrauch, denn die Sprache ist niemals unschuldig, die Worte besitzen ein zweites Gedächtnis und Erinnerungen, die sich inmitten neuer Bedeutungen geheimnisvoll erhalten.[20]

 

 

Die Brüche der Zeit sind es, die für Barthes Veränderungen in der Mentalität der Menschen hervorbringen und somit auch die Schreibweise beeinflussen. Schreibweisen sind also historisch bedingt und stellen das Wesen der Schriftsteller_innen immer in den Spiegel seiner Zeit.

 

Die Auffassung von Schrift und Schreibweisen als Kommunikationsmittel wird von Roland Barthes nicht getragen, für ihn ist eine Schreibweise das genaue Gegenteil:

 

Die Schreibweise (…) ist immer in einem Jenseits sprachlichen Ausdrucks verwurzelt, sie entwickelt sich wie ein Keim, nicht wie eine Linie, sie zeugt von einer Essenz und droht mit einem Geheimnis, sie ist eine Anti-Kommunikation und schüchtert ein.[21]

 

 

Roland Barthes stellt in »Am Nullpunkt der Literatur« die Existenz unterschiedlicher Schreibweisen fest, die im Grunde nach bestimmten Genres kategorisiert werden können. Eine Revolution beispielsweise hat ihre eigene Schreibweise, die politischer Art ist und fähig sein sollte, ein Ereignis zu mythisieren. Barthes schreibt zu den Ereignissen der Französischen Revolutionen und in Bezugnahme zu Äußerungen des Girondisten Élie Guadet vor dem Gang zum Schafott:

 

Die Schreibweise der Revolution war wie die Entelechie [d.i. die sich im Stoff verwirklichende Form, Anm.d.A.] der Revolutionslegende: sie schüchterte ein und hat eine staatsbürgerliche Weihe des Blutes erzwungen.[22]

 

 

Die politische Schreibweise der Französischen Revolution hat Ereignisse dokumentiert und überschattet in ihrem Duktus folglich alles weitere, sich ähnlich Gestaltende, auf es Referierende. Man greift also als historische Folge laut Barthes auf einen Mythos zurück, der durch eine Schreibweise erzeugt wurde: Mit der Sichtung der Quellen sichtet der Historiker eine Schreibweise, enthüllt einen Duktus, referiert auf denselben und hat sich damit auf die revolutionäre Schreibweise eingelassen. Dies beweist sowohl für Barthes und auch für Marcuse, dass Begriffe historischer Natur und gewachsen sind und dass sie im Kontext ihrer Zeit zu sehen sind.

 

Da für Barthes kein Zweifel daran besteht, dass »jedes Regime seine eigene Schreibweise besitzt«,[23] kann man die Schreibweisen nach politischen Landschaften ordnen. Der Stalinismus hatte einen Sprachduktus ebenso wie der Gaullismus, wie Barthes konstatiert. Alle Begriffe unterliegen hier der Kontrolle des politischen Systems, werden von ihm etabliert oder verstoßen, sie sind dazu da Personen oder Objekte zu bewerten und zu kategorisieren, man könnte behaupten, dass die denotative Komponente eines sprachlichen Ausdrucks also immer auch eine politische Komponente ist. Barthes’ These lässt sich unkompliziert auf unsere heutige politische Gegenwart projizieren, in der Begriffe wie »prekäre Selbstständigkeit«, »Krankenkasse« oder »Krieg« mit anderen Begriffen wie »Ich-AG«, »Gesundheitskasse« oder »bewaffneter Konflikt« zu substituieren versucht werden, und denen damit gleichzeitig auch ein neues sprachliches Wertemuster aufgesetzt wird.

 

Neben den »politischen Schreibweisen« konstatiert Barthes in seiner Schrift »Am Nullpunkt der Literatur« auch eine »Schreibweise des Romans«, hier geht es nun dezidiert um die belles lettres, die »schöne Literatur«. Das primäre Erkennungszeichen für die Schreibweise eines Romans ist in den Augen Roland Barthes das »historische Perfekt«[24] (oder auch das epische Präteritum). Die Erzählvergangenheit deutet für Barthes »immer auf ein Bemühen um Kunst«[25] hin:

 

Seine Aufgabe ist, die Wirklichkeit auf einen Punkt hin zurückzuführen und aus der Vielfalt der gelebten und übereinandergelagerten Zeiten einen puren verbalen Akt zu abstrahieren, der von den existenziellen Wurzeln der Erfahrung befreit und auf die logische Verbindung mit anderen Akten, anderen Prozessen, mit einer allgemeinen Bewegung der Welt hin orientiert ist.[26]

 

 

Die Erzählvergangenheit ist also für Barthes immer auch Abbild einer (gesellschaftlichen) Ordnung, die man im schriftlichen Werk repräsentiert sieht.

 

Der dem Roman und der erzählten Historie gemeinsame Zweck ist, die Fakten zu entfremden. Das historische Perfekt ist der Akt, durch den die Gesellschaft von ihrer Vergangenheit und ihrer Möglichkeit Besitz ergreift.[27]

 

 

Die Fakten entfremden, die Welt erzählen, wie sie sein könnte, den Mut zum offenen Widerspruch zu besitzen, all dies ist für Barthes ein Anzeichen für künstlerisches Schaffen. Das unwahre, unzuverlässige Erzählen, Lügenmärchen und Sudeleien, die die Welt in ihrem Wesen künstlerisch entfremden; hier haben wir den Kern der Marcuse’schen Forderung nach einer dialektischen Kunst, in sich widersprüchlich, da sonst zum Tode verurteilt. Die Aufgabe der Schreibweise des Romans ist sowohl für Barthes als auch für Herbert Marcuse daher »Maske zu sein und gleichzeitig mit dem Finger auf diese Maske zu zeigen«.[28]

 

Die Modernität beginnt mit der Suche nach einer unmöglichen Literatur. (…) Doch was den Schriftsteller wieder zurückerobert, ist abermals die Dauer, denn es ist nicht möglich, eine Negation in der Zeit zu entwickeln, ohne gleichzeitig eine positive Kunst zu erarbeiten, eine Ordnung, die abermals zerstört werden muß. Daher halten die größten Werke der Moderne so lange wie möglich in einer ans Wunderbare grenzenden Stellung an der Schwelle der Literatur inne, in diesem Vorstadium, in dem die Dichte des Lebens gegeben und ausgebreitet ist, ohne bereits infolge der Krönung durch eine Ordnung der Zeichen zerstört worden zu sein. Man denke zum Beispiel an die erste Person Prousts, dessen gesamtes Werk getragen wird von der anhaltenden und wieder verzögerten Bemühung der Literatur.[29]

 

 

Für Barthes sind im »Nullpunkt« alle Elemente von Literatur, die es bislang gab, durch eine totale Ordnung des Zeichens zerstört worden. Zu sehen sind nun die Fetzen der Kulturlandschaft, die die Natur zu einen »Nichtzusammenhängenden von Objekten [macht], die einsam und furchtbar sind«.[30]

 

Roland Barthes beschäftigt sich in seinem Essay nach der politischen Schreibweise, der Schreibweise des Romans auch mit der Lyrik. Das zuletzt genannte Zitat stammt aus einer Passage, die die Entwicklung in der modernen Poesie abhandelt. Diese ist für Barthes geprägt durch ihre »Preziosität«[31].  In einer Vorherrschaft der Objekte in der Lyrik erkennt Barthes den »Hunger nach dem Nomen«[32], nach einer Welt, die bestimmt ist durch das Objekt. Diese Welt hat den Menschen allerdings in die Isolation entrückt.

 

Diese lyrischen Wörter schließen den Menschen aus: es gibt keinen lyrischen Humanismus der Modernität; dieser Diskurs ist voller Schrecken, das heißt, daß er den Menschen nicht in Verbindung mit anderen Menschen setzt, sondern mit den unmenschlichsten Bildern der Natur: dem Himmel, der Hölle, dem Sakralen, der Kindheit, dem Wahnsinn, der reinen Materie etc.[33]

 

 

Sein wohl berühmtester Text zur Diskussion der Autorschaft, »Der Tod des Autors« konstruiert Autorschaft als ein Phänomen der Moderne. Barthes ist wie Paul Valéry auch der Meinung, dass es im Grunde keine Person hinter einem Text mehr gibt, nachdem er geschrieben wurde. Die Trias, bestehend aus der ständigen Suche nach Urheberschaft, dem Wesen des Urhebers und den Produktionsumständen als Signum der Moderne entbehrt laut Barthes jeglicher Relevanz, da der produzierte Text existiert und für sich spricht. Er enthält durch die Distanzierung vom Produzenten das Wesen der Welt:

 

Sobald ein Ereignis ohne weitere Absichten erzählt wird – also lediglich zur Ausübung des Symbols, anstatt um direkt auf die Wirklichkeit einzuwirken – vollzieht sich diese Ablösung, verliert die Stimme ihren Ursprung, stirbt der Autor, beginnt die Schrift. (…) Valéry (…) betonte den linguistischen und sozusagen »zufälligen« Charakter seiner Tätigkeit und vertrat in all seinen Prosawerken den grundsätzlich sprachlichen Charakter von Literatur, weshalb ihm jegliche Berufung auf das Innere des Schriftstellers wie reiner Aberglauben erschien.[34]

 

Literatur

 

Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main: Fischer, 2003.

 

Barthes, Roland: Am Nullpunkt der Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985.

 

Brecht, Bertolt: Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik. Frankfurt: Suhrkamp, 1957 [vorliegende Ausgabe stammt aus dem Jahr 1974].

 

George, Stefan: Werke. Ausgabe in zwei Bänden. Bd. 2., München und Düsseldorf: Helmut Küpper vormals Georg Bondi, 1958.

 

Kiedaisch, Petra: Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Stuttgart: Reclam, 2006.

 

Linder, Christian: Fragmente der Wollust. Außenseiter und Verführer. Über Leben und Werk von Roland Barthes. In: Lettre International, Heft 82, Berlin, Herbst 2008.

 

Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Marcuse-Werke, Bd. 3, Springe: Zu Klampen, 2004 [Nachdr. der Ausg. aus dem Suhrkamp-Verlag 1989].

 

Marcuse, Herbert: Kunst und Befreiung. Nachgelassene Schriften, Bd. 2, hrsg. von Peter-Erwin Jansen. Lüneburg: Zu Klampen, 2000

 

Marcuse, Herbert: Die Studentenbewegung und ihre Folgen. Nachgelassene Schriften, Bd. 4, hrsg. von Peter-Erwin Jansen. Springe: Zu Klampen, 2004.

 

Florian Grundei ist Redakteur bei Texturen online.

 

 

 



[1] Siegfried Unseld hat sich in seiner verlegerischen Tätigkeit immer wieder durch Nonkonformität ausgezeichnet, wollte sich selbst jedoch nie instrumentalisieren lassen. So schreibt Hubert Spiegel in einem Artikel für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« vom 22.12.2003 über den im Oktober 2002 verstorbenen Verleger: »Unseld verlegte zwar große Teile der für die intellektuelle Linke maßgeblichen Literatur, blieb aber gegen deren Vorstellungen und Ideale auf eigentümliche Weise immun.« Dies gilt nicht zuletzt auch für die verlegerische Betreuung der Werke von Herbert Marcuse. [Hubert Spiegel, Ein ganz normaler Verlag? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.12.2003, http://www.faz.net/s/Rub7FC5BF30C45B402F96E964EF8CE790E1/Doc~EBBB08FD10D3F447AB7B3B7BB4CD40987~ATpl~Ecommon~Scontent.html; angesehen am 13.1.2010]

[2] Brecht, Bertolt: Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik. Frankfurt: Suhrkamp, 1957 [vorliegende Ausgabe stammt aus dem Jahr 1974], S.291. [Fortan: Brecht: Schriften zum Theater]

[3] Vgl. Herbert Marcuses »Triebstruktur und Gesellschaft«.

[4] Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S.86.

[5] Brecht: Schriften zum Theater, S.8.

[6] ebd., S.14.

[7] Marcuse: Der eindimensionale Mensch, Fußnote auf S.89.

[8] Die Rezensionen der Erstaufführung von Brechts »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« geben ein buntes Spiegelbild von Empfindungen der westdeutschen Theaterkritik in den endenden 1950er Jahren: Knopf, Jan (Hrsg.): Brechts »Die heilige Johanna der Schlachthöfe«. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1986.

[9] Brecht: Schriften zum Theater, S.63.

[10] ebd. S.64.

[11] ebd. S.75.

[12] Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S.87.

[13] ebd. S.99.

[14]Linder, Christian: Fragmente der Wollust. Außenseiter und Verführer. Über Leben und Werk von Roland Barthes. In: Lettre International, Heft 82, Berlin, Herbst 2008, S.99. [Fortan: Linder: Fragmente der Wollust]

[15] Marcuse: Der eindimensionale Mensch, S. 118f.

[16] Barthes: Am Nullpunkt der Literatur, S.9.

[17] ebd. S.11.

[18] Hier bezieht sich Marcuse auf Austin und Wittgenstein. Marcuse: Der eindimensionale Mensch. S. 187-189, 191f., 194f., 198, 200f., 212.

[19] ebd., S. 20f.

[20] ebd., S. 23.

[21] ebd., S. 26f.

[22] ebd., S. 30.

[23] ebd., S. 32.

[24] ebd. S.37.

[25] ebd. S.38.

[26] ebd. S.38.

[27] ebd. S.41.

[28] ebd. S.43.

[29] ebd. S.48.

[30] ebd. S.60.

[31] ebd. S.50.

[32] ebd. S.58.

[33] ebd. S.61.

[34] Barthes, Roland: Der Tod des Autors. In: Jannidis, Fotis / Lauer, Gerhard / Martinez, Matias / Winko, Simone (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam, 2000, S. 185ff. [Fortan: Barthes: Der Tod des Autors]

 

 

 

 

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