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Gutenberg Galaxis oder ›posthistorische Menschen‹ im ›elektrischen Zeitalter‹? Über die Thesen Herbert Marshall McLuhans

von Matthias Agethen

Gutenberg
Gutenberg

Die Thesen des kanadischen Medientheoretikers Herbert Marshall McLuhan (1911-1980), die er in den 1960er Jahren in seinen beiden Hauptwerken „Gutenberg Galaxy“[1] und „Understanding Media“[2] entfaltete, beschäftigen bis heute die Kommunikations- und Medienwissenschaft. Zunächst als „klassischer“ Literaturwissenschaftler arbeitend[3], wurde er zunehmend zum Außenseiter des wissenschaftlichen Diskurses der beginnenden 60er Jahre. Der Grund dafür war vor allem die unkonventionelle Methodik, mit der er seine Lehren verbreitete: Sein Stil, seine Argumentation und das Erscheinungsbild seiner Bücher gingen nicht mit formal-wissenschaftlichen Konventionen dieser Zeit konform. Sein Schreiben war assoziativ, sprunghaft und keiner linearen Kausalität in der Argumentation verpflichtet. Sein Biograph Miller erkennt in seinem Schreibstil

 

eine Art von unmittelbarem, assoziativem Denken, wo sich Ideen und Bilder in freiem Zusammenspiel ohne formale Bindungen wechselseitig hervorbringen. (Miller 1972, 66)

 

Weiterhin sind seine beiden oben genannten Hauptschriften durchzogen von z. T. sehr umfangreichen Zitat-Passagen. Ohne „Rücksicht auf Logik und Stringenz“ springt er „vom kommunikationswissenschaftlichen Forschungsergebnis zum Shakespearezitat“ (Hoffmann 2002, 118) und zieht sich damit den Unmut der Forschungswelt zu. Die gewohnte wissenschaftlich-analytische Argumentationslinearität wird aufgegeben zu Gunsten einer Mosaik-Struktur (siehe Kloock/Spahr 2000, 41). Diese unkonventionelle Form findet ihre Entsprechung in der medientheoretischen Aussage seiner Thesen: Zentral ist seine Idee vom Untergang des von Literalität und ihren Implikationen (linear-analytisches Denken und Handeln) beherrschten Gutenberg-Zeitalters und des dagegen aufziehenden elektrischen Zeitalters, welches – nach McLuhan – die Überwindung der Gutenberg-Kultur bedeuten wird. Natürlich machte sein wenig wissenschaftlicher, essayistischer Stil seine Thesen durchaus angreifbar.[4] Andererseits wird er wegen seiner zu Berühmtheit gelangten, an „Werbeslogans“ (Hoffmann 2002, 120) erinnernden Thesen „The medium is the message“, „The global village“ u. a. heute oftmals als „Stammvater der modernen Medienwissenschaft gewürdigt.“ (Hoffmann 2002, 118) Weiterhin dienten und dienen seine Schriften vielen Medientheoretikern als „Steinbrüche“ (Kloock/Spahr 2000, 40): Manche Ideen wurden verwendet, bearbeitet und modifiziert, andere wurden ignoriert.

McLuhans Ansatz ist folgender: Sein Anliegen ist es, Menschheitsgeschichte als Mediengeschichte zu schreiben. Er führt die Entwicklung sowohl des Einzelmenschen, als auch der menschlichen Gesellschaftsformen auf den Umgang mit Medien zurück. Im Zentrum steht dabei das Medium Schrift bzw. Buch. Weiterhin spielen wahrnehmungstheoretische Elemente für seine Thesen eine wichtige Rolle: Medien werden als Erweiterungen bzw. Amputationen des menschlichen Sinnesapparates betrachtet. Der McLuhan-Satz „The medium is the massage“ pointiert das. Man könnte McLuhans Medientheorie also auch als fragmentarische Wahrnehmungstheorie bezeichnen. Für das Verständnis seines Werkes ist es wichtig, dass McLuhan zukunftsorientiert und optimistisch ist. Der Wechsel von Gutenberg Galaxis zu elektrischem bzw. elektronischem Zeitalter stellt für ihn eine Chance zur Befreiung des Menschen dar, sein Anliegen ist somit aufklärerisch (siehe Kloock/Spahr 2000, 71).

 

McLuhans Medienbegriff

McLuhan vertritt einen sehr weiten bzw. hypertrophen Medienbegriff. Nahezu allen Gegenständen der menschlichen Realität werden mediale Eigenschaften zugesprochen. Im 2. Teil von „Understanding Media“ analysiert McLuhan eine Reihe von Einzelmedien: Sprache und Schrift, Telefon und Radio werden genauso als Medien behandelt wie Kleidung, Häuser, Geld und Waffen. Ein Medium ist also McLuhan zu Folge „jede Technologie und jedes Konzept, mittels derer der Mensch mit der Welt in Beziehung tritt.“ [Hervorhebung im Original] (Krotz 2001, 67). McLuhan stellt sich also nicht die Frage nach dem Inhalt eines Mediums und wie dieser Inhalt auf Mensch und Gesellschaft wirken könnte, vielmehr geht es ihm um das Medium selbst. Darum, wie die Medialität selbst den Menschen und damit auch die Gesellschaft verändert. Nach McLuhan verändern Medien menschliches Denken, Handeln und menschliche Wahrnehmung automatisch. Die Veränderbarkeit des Menschen durch Mediengebrauch wird somit zum anthropologischen Faktum:

 

The effects of technology do not occur at the level of opinions or concepts, but alter sense ratios or patterns of perception steadily and without any resistance. (McLuhan 2004, 19)

 

„The medium is the message“

Der wohl eingängigste, plakativste und damit auch bekannteste Slogan McLuhans lautet: „The medium is the message“. Das Medium selbst ist die Botschaft und nicht etwa sein Inhalt. Der Inhalt jedes Mediums ist nämlich laut McLuhan immer schon ein anderes Medium: „The content of writing is speech, just as the written word is content of print“ (McLuhan 2004, 8), es spielt also beispielsweise keine Rolle, was der Programminhalt des Fernsehens ist, sondern lediglich, dass das Fernsehen als Medium die menschliche Wahrnehmung verändert. Medien sind relevant lediglich in Bezug auf ihre Wirkung auf Mensch und Gesellschaft, jedoch nicht im Sinne einer Medienwirkungsforschung, welche sich mit der Wirkung bestimmter Inhalte auf Rezipienten beschäftigt. Heute wird sein Ansatz deshalb gelegentlich als „Mediumstheorie“ [Hervorhebung im Original] (Krotz 2001, 79) bezeichnet. Es geht demnach um die „persönlichen und sozialen Auswirkungen von Medien, die sich aus ihrer Anwendung ergeben“ (Kloock/Spahr 2000, 48). Von medientheoretischer Relevanz ist allein die Veränderung der Situation des menschlichen Zusammenlebens auf Grund von Medien:

 

What we are considering here, however, are the psychic and social consequences of the designs or patterns as they amplify or accelerate existing processes. For the „message“ of any medium or technology is the change of scale or pace or pattern that introduces into human affairs. (McLuhan 2004, 8)

 

McLuhan führt dafür ein sehr einleuchtendes Beispiel an: Das elektrische Licht wird bezeichnet als das Medium ohne Inhalt. (Vgl. McLuhan 2004, 9) Ob das elektrische Licht nun einen Supermarkt erleuchtet oder eine Straße spielt keine Rolle. Das Entscheidende ist, dass die Erfindung des elektrischen Lichtes eine einschneidende Erfindung in der Geschichte der Menschheit war und nahezu alle Bereiche des menschlichen Lebens und die menschliche Wahrnehmung verändert hat. Ein weiteres Beispiel, das McLuhan zur Unterstützung seiner These heranzieht, ist das der Maschine (vgl. McLuhan 2004, 7): Die Maschine als Medium hat das Leben der Menschen verändert: Waren können schneller und effizienter hergestellt werden. Ob die Maschine nun „cornflakes“ oder „Cadillacs“ (vgl. McLuhan 2004, 7) herstellt, ist für McLuhan völlig gleichgültig. Die Veränderung für den Menschen ist das Entscheidende, nicht der jeweilige Inhalt. Ganz im Gegenteil lenke die Beschäftigung mit Medieninhalten und deren Analyse nur vom Wesentlichen, also von der je spezifischen Medialität ab.

Die These, dass jedes Medium immer Inhalt eines weiteren Mediums ist, impliziert ein weiteres wichtiges Element der These „The medium is the message“: Mediengeschichte hat weder Anfang noch Ende, sie ist „beginnlos“ (siehe Mersch 2006, 117). Die Komplexität der Medienkulturen nimmt von Entwicklungsstufe zu Entwicklungsstufe zu. Das bedeutet, dass „Medien sich ineinander verschränken und wechselseitig interpretieren“ (Mersch 2006, 116 f.). McLuhan suggeriert dabei einen Medienbegriff, der auf die Eigendynamik der Medien zielt, welcher der Mensch passiv und offenbar hilflos gegenübersteht.

 

„The extensions of man“

Ein weiteres zentrales Moment in McLuhans Werk ist seine These, Medien seien Ausweitungen – „extensions“ (McLuhan 2004, 7; 23; 91 u. ö.) – des menschlichen Körpers und insbesondere des menschlichen Sinnesapparates. Seine Theorie ist damit gleichzeitig Medientheorie und Wahrnehmungstheorie. Jedes Medium wird als eine Körperausweitung begriffen. Das Rad sei beispielsweise eine Ausweitung des menschlichen Bewegungsapparates, Kommunikationsmedien seien Ausweitungen der Sinne. Gleichzeitig – so McLuhan – stellten Medien aber nicht nur Ausweitungen dar. In gleicher Weise wirkten Medien auch amputierend. Eine körperfremde, nicht-organische Erweiterung des Körpers trage zu einer Verarmung des ersetzten bzw. des amputierten Körperteils bei. Das Beispiel, welches sich leitmotivisch durch McLuhans gesamtes Werk zieht, ist das der Verarmung des menschlichen Sinnesapparates durch die Vormachtstellung des Seh- bzw. Gesichtsinnes als Folge der Gutenberg Galaxis.[5] Mersch differenziert das Bild der Amputation menschlicher Körperteile durch Medien weiter. Er erkennt darin ein jeder Technik innewohnendes Prinzip: „Sie sind, [d. i. die Medien] wie Techniken überhaupt oder sämtliche von Menschen gefertigte [...] Artefakte, Prothesen.“ (Mersch 2006, 109) Die Amputation wird somit zur Selbstamputation zum Zweck der Lebensverbesserung der Menschen. Der Drang des Menschen nach Vereinfachung und Effizienzsteigerung wird dadurch conditio humana.

McLuhans Argumentation geht so: Jede Epoche[6] der Menschheitsgeschichte habe einen anderen ‚Zentralsinn’: Die jeweilige mediale Entwicklungsstufe habe zur Folge, dass bestimmte Körperteile, insbesondere bestimmte Sinne, vor anderen bevorzugt würden: Der Bogen zu „The medium is the message“ schließt sich: Das Medium schreibt dem Menschen vor, welcher Sinn beansprucht wird und welcher Sinn zur Nutzung des jeweiligen Mediums unnütz ist und deshalb verarmt. Die Idee, die dahinter hervor scheint ist folgende:

 

Medien verzerren [Hervorhebung im Original] also die menschlichen Wahrnehmungen und prägen darüber [...] menschliches Denken und Handeln und dann natürlich auch Kultur und Gesellschaft und deren Struktur und deren Typ. (Krotz 2001, 67)

 

Alle Medien stellen Ausweitungen, Amputationen, Prothesen und Modifikationen der menschlichen Sinne und damit der menschlichen Wahrnehmung dar. Die veränderte menschliche Wahrnehmung führt zu verändertem Denken und Handeln und damit eben auch zu Veränderungen in größeren Zusammenhängen – auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene. Kultur und Gesellschaft sind somit zu verstehen als Folgeerscheinungen von Medienentwicklungen und deren Nutzung.    

McLuhan versteht Medien weiterhin als Belastungen für den menschlichen Sinnesapparat, welche das menschliche Bewusstsein verändern: „That our human senses, of which all media are extensions, are also fixed charges on our personal energies“ (McLuhan 2004, 23).

 

Medientheorie als Mediengeschichte

McLuhan entwirft seine Medientheorie anhand einer Mediengeschichte der Menschheit. Menschheitsgeschichte ist – nach McLuhan – immer auch Mediengeschichte, es gibt kein ‚Jenseits der Medien’. McLuhan teilt die Menschheits- bzw. Mediengeschichte in drei bzw. vier Epochen ein: 1. Orale Stammeskulturen, 2a. literale Manuskript-Kultur, 2b. Gutenberg Galaxis und 3. elektrisches bzw. elektronisches Zeitalter. Besonders wichtig erscheinen McLuhan hierbei die jeweiligen Medienzäsuren, d. h. die jeweiligen Übergänge von der einen Epoche zur nächsten auf Grund einer einschneidenden Medien-Innovation. Mersch bemerkt hierzu, dass jedes neue Medium „einen Umsturz in den Strukturen von Wahrnehmung, Intersubjektivität und Kultur“ bedeute (Mersch 2006, 113). Von 1. zu 2a. bedeutet die Schrift den Übergang, von 2a. zu 2b. das gedruckte Buch und von 2b. zu 3. die Elektrizität. In McLuhans Schrift „The Gutenberg Galaxy“ geht es vor allem um den Übergang zum gedruckten Buch, als die Menschheit von da aus prägende Medienentwicklung wird die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg in der Mitte des 15. Jahrhunderts genannt. In „Understanding Media“ geht es vor allem um das Ende der Gutenberg- Galaxis und die Chancen und Möglichkeiten des heraufbeschworenen elektronischen Zeitalters.

 

Orale Stammeskulturen

Nach McLuhan ist das Zentralorgan voralphabetischer, also nicht-literaler Kulturen das Ohr: „In tribal cultures, experience is arranged by a dominant auditory sense life“ (McLuhan 2004, 93). Der Mensch lebt in einem akustischen Raum (vgl. Krotz 2001, 69 f. und Kloock/Spahr 2000, 59 f.). Dies hat für Mensch und Gesellschaft wichtige Folgen: Es gibt keinen ausgeprägten Individualismus, die Gesellschaft lebt weitgehend harmonisch, dezentral und chaotisch. Vorstellungen von Objektivität sind noch nicht entwickelt, da Töne und gesprochene Sprache jeweils starken akustischen Schwankungen unterliegen können. Der Mensch ist charakterisiert als „ganzheitlich, spontan, gefühlsbetont, anteilnehmend“ (Krotz 2001, 69). Kommunikation, Speicherung und Überlieferung von Wissen finden über die Akustik statt. Zentrales Instrument zur Wissensvermittlung und Machterhaltung ist die Rhetorik. Lineares kausales Denken und Handeln ist – laut McLuhan – oralen Kulturen fremd.

 

Literale Manuskript-Kulturen

Für McLuhan beginnt die Geschichte westlicher Zivilisation mit der Erfindung bzw. der Einführung der Schrift, genauer mit der Erfindung des phonetischen Alphabets:

 

The phonetic alphabet is a unique technology. There have been many kinds of writing, pictographic and syllabic, but there is only one phonetic alphabet in which semantically meaningless letters are used to correspond to semantically meaningless sounds. (McLuhan 2004, 90)  

 

Das phonetische Alphabet habe den Weg geebnet für eine Kultur der Schrift. Die Organisationsformen oraler Kulturen seien zu Gunsten auf Literalität beruhender Sozialformationen verschwunden. Logische Abstraktionsleistung, Kausalität und Linearität hätten chaotische und subjektiv-willkürliche Strukturen der oralen Stammeskulturen verdrängt. Die Hauptursache für das neue Denken und das neue Bewusstsein schreibt McLuhan der nun entstehenden Vormachtstellung des Gesichtssinnes vor den anderen Sinnen zu:

 

As an intensification and extension of the visual function, the phonetic alphabet diminishes the role of the other senses of sound and touch and taste in any literate culture. (McLuhan 2004, 91 f.)

 

Auch hier wird also wiederum wahrnehmungstheoretisch argumentiert: Die Schrift, das Schreiben und das Lesen sind Vorgänge, die den Gesichtssinn vor allen anderen Sinnen beanspruchen. Der Mensch passt sich dem Medium an, Zeile für Zeile und Buchstabe für Buchstabe verfolgt er das Geschriebene, erbringt eine logische Abstraktionsleistung und verändert somit sein Wesen und Denken. Neue kulturelle und gesellschaftliche Formen und Organisationsstrukturen entstehen. Hier gilt wieder: Das Medium ist sowohl Botschaft als auch Massage.[7] Das Visuelle ist – laut McLuhan – unmittelbar verknüpft mit dem Gesetzmäßigen und Regelhaften (siehe Kloock/Spahr 2000, 60 f.). Die literale Manuskript-Kultur ist nun der Übergangsraum von noch von Oralität geprägten Traditionen der Wissensvermittlung zur modernen Schriftkultur der Gutenberg Galaxis; diesen Übergang terminiert McLuhan vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis zum 15. Jahrhundert n. Chr. (siehe McLuhan 2002, 90 f.). Im Zeitalter der Manuskripte gibt es noch keine standardisierte Einheitssprache. Dialektale Varianzen prägen das Schriftbild des Manuskripts, es herrscht noch keine Regelhaftigkeit. Autorschaft ist der Manuskriptkultur fremd: Anonyme Verfasser schreiben Texte ab, ergänzen oder verkürzen sie. Es gibt noch kein Urheberrecht, die Texte sind Allgemeingut. Die Manuskripttexte variieren stark in Form, Stil und Inhalt. Weiterhin gibt es keine einheitliche Grammatik. Die Texte sind geprägt von rhetorischen Figuren und nicht von einem analytisch-wissenschaftlichen Duktus. Die Manuskripte wurden laut vorgelesen: Es handelte sich also um eine Mischform – eben einen Übergang – von noch oralen und schon literalen Elementen. Das Vorgelesene musste über das Hören ergänzt werden, so wurde nicht nur das Auge, sondern auch das Ohr des Rezipienten beansprucht. Für McLuhan ist das Manuskript-Zeitalter deshalb geprägt von „Synästhesie und Taktilität“ (Kloock/Spahr 2000, 61).

Die im 15. Jahrhundert stattfindende Medienzäsur – die Erfindung des Buchdrucks – besiegelte den Untergang der Manuskript-Kultur und ihrer Implikationen – harmonisches Gleichgewicht aller menschlichen Sinne – zu Gunsten der nun beginnenden Gutenberg Galaxis, welche – laut McLuhan – zur Dominanz des visuellen Sinnes und zur Verarmung der übrigen Sinne führte.

 

Die Gutenberg Galaxis

Die oben beschriebene Entwicklung hin zum geschriebenen Wort und somit zur Dominanz des Visuellen findet ihren Höhepunkt in den Folgen der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg. Das von nun an zum ersten Massenmedium der Menschheitsgeschichte werdende gedruckte Buch bewirkt einschneidende Veränderungen für Mensch und Gesellschaft. McLuhan bringt wiederum ein wahrnehmungstheoretisches Argument ins Feld: „As the Gutenberg typography filled the world the human voice closed down.“ (McLuhan 2002, 250) Die menschliche Stimme kann hier stellvertretend verstanden werden für alle nicht-visuellen Sinne. Laut McLuhan bewirkt die massenhafte Rezeption des gedruckten Buches also eine Verarmung, eine Amputation des menschlichen Sinnesapparates. Zentralorgan ist das Auge, da beim leisen, ‚einsamen’ Lesen nur das Auge beansprucht wird. Auf diese Verschiebung in der menschlichen Wahrnehmung führt McLuhan nun alle Entwicklungen zurück, die unter den Begriff „modern“ subsumiert werden können. Mit dem Aufkommen und der Verbreitung des Buches als Massenmedium beginnt also – nach McLuhan – die Moderne. Sehr treffend fasst Mersch die „neuzeitliche[n] Kulturtechniken“ (Mersch 2006, 120) zusammen, die McLuhan als Folge des Buchdrucks erkennt:

 

Die mechanische Reproduktion, die Zentralperspektive, die chronologische Erzählung, [...] die newtonsche Physik, den Individualismus, den freien Markt und die Nationalstaatlichkeit. (Mersch 2006, 120)

 

Der Buchdruck wird zur ‚Urszene’ technischer Reproduktionsarbeit: Arbeitsteilig werden Bücher maschinell als Massenware produziert. Formung und Formatierung von Wissen – und somit auch von menschlichen Sinnen – werden möglich. Der Buchdruck kann als Vorform der im 19. Jahrhundert aufkommenden modernen Industriearbeit verstanden werden, er „lieferte das erste uniforme und wiederholbare Konsumgut“ (Kloock/Spahr 2000, 63). Die Erfindung der Zentralperspektive geht – laut McLuhan – auf die Bedingungen der Buch-Rezeption zurück. Das Auge, der menschliche Sinnesapparat ist konzentriert auf das vor ihm liegende Buch, es beansprucht seine totale Aufmerksamkeit. Ein neues Bewusstsein des eigenen ‚Ich’ wird dadurch bewirkt: Die Idee des modernen Individualismus wird geboren. Dies wird noch verstärkt durch die Einführung des Urheberrechts: Die anonymen Schreiber des Manuskript-Zeitalters werden zu individuellen Autoren, welche ihre Texte zunehmend als ihr Eigentum verstehen. Bücher werden zur Massenware, die verlegerische und kaufmännische Verbreitung der Druckwaren kann als vorkapitalistische Form eines freien Marktes begriffen werden.

Das Hauptmerkmal des gedruckten Buches sei seine standardisierte Typographie[8], so McLuhan. Die Prinzipien der Typographie fänden ihre Wirksamkeit auch in allen anderen Bereichen: Klare Formung, Linearität, Einheitlichkeit, Wiederholbarkeit, Präzision und Uniformität bestimmten von nun an Wahrnehmung und Denken des Menschen. Die moderne Wissenschaft sei nur möglich geworden durch die Prinzipien der Typographie: Formales Denken, logische Analyse und das Vertrauen in die menschliche ‚ratio’ seien zurückzuführen auf die Charakteristika der formalisierten Druck-Typographie. Wissenschaftliche Thesen folgen von nun an der gleichen Kausalität und Logik wie die logische Anordnung der streng formatierten gedruckten Buchseiten. Die Logik des Visuellen, der an der Linearität der Zeilen orientierte analytische Blick weist jede alternative Form der Erkenntnis zurück: „Print culture has long been blind to most other kinds of causation“ (McLuhan 2002, 252). Alles, was nicht schriftlich, in der Form urheberrechtlich geschützter, formal exakter Bücher gedruckt ist, wird in den Bereich des Irrationalen gedrängt. Die einzige Erkenntnisform ist das Lesen: Das Auge ist das zentrale und das meist beanspruchte körperliche Organ. Allein das Visuelle kann das Geschriebene erfassen und somit dem Menschen zur Erkenntnis verhelfen. Alle anderen Sinne, etwa Hören und Fühlen werden vernachlässigt und durch das Buch amputiert. Zusammenfassend beurteilen Kloock/Spahr die Bedeutung der Typographie – also des gedruckten Buches – in der Argumentation McLuhans folgendermaßen:

 

Die Logik der Typographie gipfelte also in der Identifikation von Erkenntnis und Ratio, die die sinnliche Wahrnehmung zu ihrem irrationalen Gegenpart erklärte. (Kloock/Spahr 2000, 65)

 

Der Untergang der auf Oralität oder Manuskript-Kultur basierenden Traditionen und ihrer Merkmale – synästhetische Beteiligung aller Sinne am Prozess der Wissensvermittlung – wird besiegelt durch das Aufkommen der Gutenberg-Bücher: „[...] that uniform and continous habits are a sign of intelligence, thus eliminating the ear man and the tactile man.“ (McLuhan 2004, 18)

Weiterhin führt McLuhan die Entwicklung von Nationalstaatlichkeit auf die Erfindung des Buchdrucks zurück: Formatierung und Uniformisierung von Sprache, Grammatik und Vokabular mit Hilfe der Typographie hätte zur Ausbildung von einheitlichen, sich klar voneinander abgrenzenden Sprachen und Dialekten geführt: Unter anderem führt er die Französische Revolution auf den Buchdruck zurück. (Siehe McLuhan 2004, 15) Dieser Gedanke leuchtet ein und es ist wenig bestritten, dass gedruckte philosophische Schriften, politische Flugschriften und Zeitungen entscheidend zum Gelingen der Französischen Revolution und damit zum Ende der Monarchie geführt haben.

McLuhans Thesen sind von unüberlesbar kulturkritischem Gestus:[9] Qualitativ sieht er im Aufkommen der Gutenberg Galaxis einen Rückschritt. Der moderne, zivilisierte Mensch sei unfrei und gefühlsmäßig verarmt: „Literate man undergoes much separation of his imaginative, emotional, and sense life“ (McLuhan 2004, 95)          

 

Das elektrische Zeitalter

Den Beginn des elektrischen Zeitalters terminiert McLuhan auf das späte 19. bzw. frühe 20. Jahrhundert. Die Erfindung der Telegraphie sei die entscheidende Medienzäsur gewesen. Die Elektrizität bringe nun wieder einschneidende Veränderungen für den Menschen und seine Kultur mit sich. War die Gutenberg Galaxis von Linearität und Sukzession, von Amputation der Sinne und Rationalität gekennzeichnet, findet – laut McLuhan – durch die technischen Medien Fernsehen, Radio und Telefon der Mensch zu sich selbst zurück, da die Elektrizität eine Beteiligung aller Sinne erfordere:

 

Positively, automation [d. i. Elektrizität] creates roles for people, which is to say depth of involvement in their work and human association that our preceding mechanical technology had destroyed. (McLuhan 2004, 7)

 

Der ‚posthistorische’ Mensch des elektrischen Zeitalters wird dem ‚prähistorischen’ Menschen des Zeitalters der nicht-literalen Stammeskulturen ähnlich. Die neuen Medien erfordern wieder ein Höchstmaß der Beteiligung der Gesamtperson: Die Mediennutzung ist wieder geprägt von harmonischer Synästhesie und Taktilität. Das Ende der Gutenberg Galaxis und seiner im elektrischen Zeitalter überkommenen Prinzipien steht bevor, so McLuhan. Besonderes Interesse gilt dabei dem Fernsehen als neuem Leitmedium: Laut McLuhan erfordert das Fernsehbild eine Anstrengung aller menschlichen Sinne, da das Fernsehen „nicht visuell, sondern taktil“ (Kloock/Spahr 2000, 72) funktioniere.

Hatte McLuhan das Gutenberg-Zeitalter mit einer ‚Explosion’ verglichen, mit der explosionsartigen Ausbreitung des modernen Individualismus, der Streuung von Nationalstaaten und der Isolation und Vereinzelung (vgl. McLuhan 2004, 93 f.) des Menschen, vergleicht er nun das elektrische Zeitalter mit einer ‚Implosion’ zum „Global Village“ (McLuhan 2004, 101). Die Menschen rücken wieder zusammen, entwickeln wieder Gefühle durch die Nutzungsbedingungen der elektronischen Medien. Die Menschheit wächst zusammen zu einem organischen Ganzen. Die im Buchzeitalter charakteristische Technik der Zerlegung und Analyse wird durch die Elektrizität zu einem organischen und natürlichen Zusammenhang. Ein weiteres wichtiges Element stellt das der Dezentralisierung dar. Herrschte im Gutenberg-Zeitalter das Visuelle vor, sei im elektronischen Zeitalter das zentrale Nervensystem der Kardinalsinn:

 

Because of its action in extending our central nervous system, electric technology seems to favor the inclusive and participational spoken word over the written word. (McLuhan 2004, 89)

 

Es ergibt sich ein metaphorisches Bedeutungsgeflecht aus zentralem Nervensystem, Vernetzung und Synästhesie – hier in Erscheinung des gesprochenen Wortes. Auch an dieser Stelle wieder die Idee der Ausweitung des menschlichen Körpers. Die elektronische Technik weitet das Nervensystem aus, die die Anteilnahme und den Einsatz des Menschen erfordernde gesprochene Sprache – die Oralität – gewinnt ihre Vormachtstellung gegenüber der Gutenbergschen Drucksprache zurück. Die Menschen leben wieder harmonisch und in gegenseitiger Abhängigkeit miteinander, so McLuhan.  

McLuhans Idee vom elektrischen Zeitalter ist somit visionär, er beschreibt es als ein ‚goldenes Zeitalter’ (siehe McLuhan 2004, 55 f.). Der „Pessimismus der untergehenden Gutenberg Galaxis“ wird zu einem „Optimismus elektronischer Kultur“ (Mersch 2006, 125). Jedoch weist McLuhan gleichzeitig auf die Schwierigkeiten dieses medialen, also auch menschheitsgeschichtlichen Umbruchs hin: Seine Kritik richtet sich an die Verfechter der alten Gutenberg-Strukturen, welche die neuen Medien seines Erachtens mit den alten Maßstäben von Logik und Kausalität bewerteten und in Bezug auf die neue Medientechnik in Konservatismus verfielen: „many highly literate people in our time [...] getting into a moral panic“ (McLuhan 2004, 89). Kloock/Spahr merken hierzu an, dass „Phasen kultureller Umbrüche [...] Verwirrung, Desorientierung und Hilflosigkeit“ (Kloock/Spahr 2000, 70) hervorriefen. McLuhan warnt vor ‚Rückspiegeldenken’ – eben vor der Bewertung des Neuen mit alten Kriterien.

 

Kritik

So originell und packend McLuhans Thesen auf den ersten Blick wirken mögen, so angreifbar erscheinen sie dem kritischen Leser auf den zweiten Blick.[10]

Zunächst einmal ist McLuhans hypertropher Medienbegriff zu kritisieren; bei ihm werden nahezu alle Gegenstände der menschlichen Realität zu Medien. Er nimmt keinerlei Subklassifikationen vor, eine Unterscheidung zwischen Medien und Technik im Allgemeinen ist somit nicht mehr möglich (vgl. Kloock/Spahr 2000, 57 f.). Stark reduktionistische Verallgemeinerungen führen zu unhaltbaren Pauschalisierungen. Ein Beispiel: Der Gegensatz zwischen England und Amerika wird zurückgeführt auf die englische Affinität zum dynamischen mündlichen Gewohnheitsrecht (siehe McLuhan 2004, 15). Allerdings erklärt McLuhan an dieser Stelle nicht, was genau damit gemeint ist. Derartiges kann also nicht als wissenschaftlich ernst zu nehmende These gelten.

Einen starken Widerspruch innerhalb des McLuhanschen Ideenkosmos’ stellt die Tatsache dar, dass er – eigentlich gegen die Gutenberg-Prinzipien anschreibend – selbst in Kategorien der Linearität und Kausalität argumentiert. Sein Verständnis von Menschheits- bzw. Mediengeschichte ist „teleologisch“ [Hervorhebung im Original] (vgl. Mersch 2006, 126 f.): Er geht linear vor, indem er in seinen Schriften die Menschheitsgeschichte chronologisch auf die jeweilige Medienentwicklung hin untersucht: Oralität – Literalität – Elektrizität. Sein auf den ersten Blick sprunghaft-assoziativer Schreibstil erscheint dann auf einer Meta-Ebene klar gegliedert und stringent. Seine Gesamttheorie ist linear und deterministisch. Seine Thesen transportiert er über – wenn auch recht alternativ strukturierte – Bücher. Er selbst missachtet also seine eigene Warnung, die neue Medientechnologie des elektrischen Zeitalters nicht mit den Mitteln der Gutenberg Galaxis zu beschreiben. Aus diesem Grundwiderspruch kann er sich nicht befreien.

Weiterhin ist zu kritisieren, dass McLuhan einen zu starken Akzent auf den Bereich des Technischen setzt. Es geht ihm ausschließlich um das Medium als Medium. Umgekehrt heißt das aber auch, dass die inhaltlich-soziale Seite der Medien völlig vernachlässigt wird. Es lässt sich nicht bestreiten, dass der Inhalt eines Mediums sehr wohl auch für seine Wirkungsweise und die daraus entstehenden Konsequenzen für Mensch und Gesellschaft Relevanz hat.

In McLuhans Schriften tritt der Mensch als aktiver Produzent seiner Umwelt, d. h. auch seiner medialen Umwelt, nicht in Erscheinung (vgl. Krotz 2001, 77). Dies, obwohl die Rolle des Menschen im Diskurs von Medien- und Kommunikationstheorie zu Recht nicht nur als die eines rein passiven und den Medien gegenüber machtlosen Rezipienten verstanden wird. Krotz betont die aktive Rolle des Menschen, er argumentiert folgendermaßen:

 

Die Medien sind nichts anderes als Potenziale, die sich die Menschen für spezifische Zwecke nutzbar machen – und dadurch kommen dann soziale und andere Veränderungen in Gang. (Krotz 2001, 77)

 

Die McLuhan-Metapher von der „Amputation“ menschlicher Körperteile erscheint somit in einem veränderten Licht: Der Mensch baut und konstruiert sich eher mediale Werkzeuge, welche ihm das Leben erleichtern.

Auch erhebt McLuhan eine Art Totalitätsanspruch auf die medialen Entwicklungen als Erklärung für den Zustand der menschlichen Kultur und Gesellschaft. Nur einen einzigen Gegenstand betrachtet er – die Medien –, um die Menschheitsgeschichte in ihrer Gesamtheit zu erklären. Das ist mit Sicherheit zu monokausal gedacht. Die Komplexität des menschlichen Wesens, die menschliche Wahrnehmung und Physiologie und das menschliche Zusammenleben in Gesellschaften sind nicht erklärbar nur aus dieser einen medientheoretischen Perspektive. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu bemerken, dass er wohl argumentativ polarisieren muss, um seine zentralen Thesen verständlich zu machen.

Weiterhin steht McLuhans Medien- und Menschheits-Geschichtsschreibung „allein unter dem Gesichtspunkt von Schriftlichkeit“ (Mersch 2006, 118). Statt die „Pluralität disparater Medialitäten und Technologien“ (ebd.) anzuerkennen und in seiner Analyse zu berücksichtigen, führt er alle modernen Kulturtechniken allein auf den Buchdruck zurück. Zwar definiert er auch beispielsweise Geld oder Häuser als Medien, doch spielen diese im Hinblick auf seine wahrnehmungstheoretische Medientheorie keine besondere Rolle. Denken und Handeln des modernen und zivilisierten Menschen werden allein dadurch erklärt, dass das Buch als Massenmedium zu einer Vormachtstellung des Gesichtssinns gegenüber den anderen Sinnen geführt habe. Welche Rolle im Prozess der menschlichen Entwicklung zur Moderne entweder andere Medien oder auch andere nicht-mediale Faktoren gespielt haben könnten, wird nicht untersucht. Wobei in diesem Kontext von einer um wissenschaftliche Erkenntnis bemühte Untersuchung sowieso nicht gesprochen werden kann. Das ist schon in der Form seiner Äußerungen offensichtlich. Einerseits ist sein Schreibstil zwar von anziehender Plakativität und faszinierender Assoziativität, andererseits führt jedoch genau das dazu, dass seine Thesen weder empirisch, noch auf andere Weise wissenschaftlich überprüfbar oder belegbar sind. Auf den Punkt gebracht: Es ist absolut unmöglich, die komplexe und „wechselvolle Menschheitsgeschichte einzig am Faden einer grundlegenden Medientransformation [d. i. der Übergang zum gedruckten Buch] aufzuwickeln.“ (Mersch 2006, 119) Unter formal-wissenschaftlichen Aspekten muss dieses Projekt bereits im Ansatz scheitern.

Die McLuhansche Charakterisierung der Einzelmedien lässt weitere Fragen offen: Inwiefern ist das Buch visuell, das Fernsehen aber taktil? (vgl. Krotz 2001, 78) Man könnte auch genau umgekehrt argumentieren: Durch die Abstraktionsleistung, die das Geschriebene vom Leser erfordert, wird ein kognitiver Vorgang in Bewegung gesetzt. Der Leser muss die an sich bedeutungslosen sprachlichen Zeichen in Bedeutungen umsetzen. Das stellt eine größere Aufgabe für das menschliche Zentralnervensystem dar, als McLuhan zugesteht. Gerade auf Grund dieser intellektuellen Leistung wird ja das zentrale Nervensystem geschult, ‚massiert’ und somit – in der Terminologie McLuhans – ausgeweitet. Beim Fernsehen hingegen verhält es sich anders: Gerade dies ist ja auf Visualität hin ausgerichtet. Das Bild ist das Entscheidende. Wie McLuhan dem Fernsehen nun Taktilität und Synästhesie, also eine hohe Beteiligung bzw. ein hohes Maß an ‚Involvement’, zuschreiben kann, bleibt etwas nebulös. Seine These, dass der Fernsehrezipient dazu angehalten sei, die einzelnen schwarzen und weißen Fernsehpunkte zu einem Ganzen verbinden zu müssen und somit sein zentrales Nervensystem ausweite (siehe McLuhan 2004, 336-369) ist wenig überzeugend und nicht belegbar. Diese These ist wohl vor allem der Faszination für das ‚neue’ Medium Fernsehen während der 60er Jahre geschuldet.          

Des Weiteren ist anzumerken, dass die bei McLuhan ausschließlich auf den Buchdruck und die Typographie zurückgeführte linear-kausale Denkweise des modernen Menschen auch schon in prä-literalen bzw. prä-typographischen Organisationsformen von Wissen angelegt sein dürfte: Auch die gesprochene Sprache folgt den Regeln der sukzessiven Linearität. Einzelne Laute und Wörter können nur nacheinander wahrgenommen werden und ergeben nur in der richtigen Reihenfolge einen Sinn. Die Fähigkeit zur Herstellung von geregelten Reihenfolgen und deren Analyse scheint somit ein an Sprachlichkeit überhaupt – und nicht nur an die formalisierte Typographie des Buchdrucks – gebundenes anthropologisches Faktum zu sein. Der Unterschied zwischen Oralität und Literalität erscheint somit weniger gewichtig und medientheoretisch bedeutsam, als von McLuhan postuliert.

 

Die Thesen McLuhans – eine Pionierleistung

Trotz der vielen Kritikpunkte und offenen Fragen leisten die Thesen Marshall McLuhans einen wichtigen Beitrag für den medientheoretischen Diskurs. Sein Ansatz, das Medium selbst und nicht etwa seinen Inhalt ins Zentrum medienwissenschaftlicher Untersuchungen zu rücken, verdient Anerkennung und wurde vor McLuhan nie derart radikal gefordert. Das ist vielleicht seine eigentliche „message“: Das ‚Wachrütteln’ einer sich noch etablierenden Medienwissenschaft in den 1960er Jahren. Bereits im ersten Kapitel von „Understanding Media“ weist er auf die problematischen Grundpositionen in der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit Medien hin: „The older unawareness of the psychic and social effects of media can be illustrated from almost any of the conventional pronouncements.“ (McLuhan 2004, 11) Sein Anliegen wird somit zu dem eines ‚Pioniers’ der Medienwissenschaft, er wird zum unangenehmen Korrektiv und Kontrapunkt der klassisch-wissenschaftlich arbeitenden, akademischen Kollegen aus der Zunft der Medienwissenschaft der 60er Jahre.[11]

Vor diesem Hintergrund lässt sich sein Gesamtwerk auch als groß angelegte Kultur- und Ideologiekritik lesen:

 

The American stake in literacy as a technology or uniformity applied to every level of education, government, industry, and social life is totally threatened by the electric technology. (McLuhan 2004, 18)

 

Implizit bedeutet das natürlich, dass McLuhan unterstellt, die amerikanische Kultur und Gesellschaft – hier paradigmatisch verwendet für die ‚westlich zivilisierte Welt’ im allgemeinen (vgl. McLuhan 2004, 89; 93; 95 u. ö.) – sei nichts als ein Produkt der Entwicklungen, die durch die Gutenbergsche Erfindung bewirkt worden seien. Diesen Entwicklungen steht McLuhan nun – wie ausgeführt – äußerst kritisch gegenüber. Seine Theorie wird somit zu einer ‚Infrage-Stellung’ westlicher Zivilisation und ihrer Werte. Dem Umstand, dass auch die hochgeschätzten Medien des elektrischen Zeitalters in gewisser Weise nützliche Folgen von Gutenbergs Erfindung sind[12], wird jedoch an keiner Stelle Rechnung getragen.

Was nicht unterschlagen werden darf, ist das „eindrucksvoll Visionäre[]“ (Krotz 2001, 79) an McLuhans Thesen. Man muss anerkennen, dass er in den medialen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts sehr klar etwas revolutionär Neues erkannt hat, vergleichbar eben mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert. Besondere Relevanz erhalten McLuhans Ideen somit erst in Bezug auf etwas, was er selbst noch gar nicht im Sinn gehabt haben konnte: Den (Personal-)Computer und das Internet. Seine Metaphern von Vernetzung und globalem Dorf könnten die mediale Gegenwart nicht besser beschreiben. Das Internet hat ja in der Tat die ganze Welt zum McLuhanschen „Global Village“ zusammengerückt.

 

Quellen und Literatur

 

Quellen

  • McLuhan, Marshall (2002): The Gutenberg Galaxy. The making of typographic man. Reprint der 1. Aufl. von 1962. Toronto, Buffalo, London: University of Toronto Press. 
  • McLuhan, Marshall (2004): Understanding media. The extensions of man. 4. Aufl., London/New York: Routledge.

 

Kritische Literatur

  • Baltes, Martin/Böhler, Fritz/Reuß, Jürgen (Hrsg.) (1997): Medien Verstehen. Der McLuhan Reader. Mannheim: Bollmann. 
  • Hoffmann, Stefan. „Wiedergelesen. Marshall McLuhan: Understanding Media.“ In: Medienwissenschaft (2002) Heft 1, S. 118-121. 
  • Kerckhove, Derrick de (2008): McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert. Bielefeld, Transcript. 
  • Kloock, Daniela/Spahr, Angela (2000): Medientheorien: Eine Einführung. 2., korr. und erw. Aufl. München: Fink. S. 39-76. 
  • Krotz, Friedrich. „Marshall McLuhan Revisited. Der Theoretiker des Fernsehens und die Mediengesellschaft.“ In: Medien & Kommunikationswissenschaft. (vormals: Rundfunk und Fernsehen), Bd. 49 (2001), Nr. 1, S. 62-81. 
  • Marchand, Philip (1999): Marshall McLuhan. Botschafter der Medien, Biografie. Aus dem Amerik. übers. von Martin Baltes. Stuttgart: Dt. Verl.-Anst. 
  • Mersch, Dieter (2006): Medientheorien zur Einführung. Hamburg: Junius. S. 105-127. 
  • Miller, Jonathan (1972): Marshall McLuhan. Aus dem Englischen übers. von Lutz E. Wollf. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. 
  • Stearn, Gerald Emanuel (Hrsg.) (1969): McLuhan Für und Wider. Aus dem Amerikanischen übers. von Elke Kummer. Düsseldorf/Wien: Econ.

 


[1] Herbert Marshall McLuhan (1962): The Gutenberg Galaxy.

[2] Ders. (1964): Understanding media.

[3] Zur Biografie McLuhans siehe: Philip Marchand (1999): Marshall McLuhan. und Jonathan Miller (1972): Marshall McLuhan, insbesondere das 2. Kapitel.

[4] Eine Zusammenstellung von Aufsätzen, Rezensionen, Kommentaren und Interviews, die die McLuhan-Rezeption der 60er Jahre dokumentieren, bietet Gerald Emanuel Stearn (1969): McLuhan Für und Wider.

[6] Zu den jeweiligen Stufen der Menschheitsgeschichte nach McLuhan siehe Kap. 3. dieser Arbeit.

[7] Ein weiterer plakativer und berühmter McLuhan-Slogan lautet: „The medium is the massage“. Er veranschaulicht, dass Medien den menschlichen Körper ausweiten, dass sie ihn massieren und ‚unter die Haut gehen’ und somit eine Veränderung der Wahrnehmung bewirken.

[8] Schon der Untertitel von „The Gutenberg Galaxy“ weist auf die Bedeutung der Typographie für McLuhans Argumentation hin. Er lautet: „The making of typographic man.“

[9] Siehe dazu weiter unten: "Kritik".

[10] Einen guten Überblick über die aktuelle McLuhan-Diskussion und eine kritische Auseinandersetzung mit seinen Thesen bietet: Derrick de Kerckhove (2008): McLuhan neu lesen. In diesem Band wird die gesamte zeitgenössische Medienlandschaft – vor dem Hintergrund einer kritischen Re-Lektüre McLuhans – analysiert.

[11] Siehe hierzu: Jonathan Miller (1972): Marshall McLuhan. Kap. 2.

[12] Man beachte, dass – folgt man McLuhans Argumentation – ohne die Erfindung des Buchdrucks beispielsweise die moderne Wissenschaft nicht möglich ist. Das in und durch Wissenschaft vermittelte technische ‚Know-how’ ist jedoch elementarer Bestandteil im Prozess der Entwicklung neuer (elektronischer) Medien.

 

Matthias Agethen studiert Germanistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.



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