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Der ungebetene Ratgeber

von Michael Schikowski

Berate sich wer kann
Berate sich wer kann

Warum werden in literarischen Buchhandlungen keine Ratgeber geführt? Es mag sein, dass für Basteltechniken, Anleitungen zur Gartenpflege und Literatur über Haustiere schlicht der Platz nicht reicht. Aber die Buchhändler lehnen sie – vor allem aber die psychologischen Ratgeber - vehement ab. Womit kann man sich diese Haltung erklären?

 

Die Ursache dafür mag daher stammen, dass man im Ratgeber den vollendeten Ausdruck dessen erblickt, was der Soziologe Norbert Elias den >>Zivilisationsprozess<< genannt hat. Dieser besteht im Wesentlichen darin, den Menschen seiner natürlichen Neigungen und Bedürfnisse zu entfremden und für eine bestimmte Kulturstufe zuzurichten. Ratgeber sind in diesem Sinne - und vielleicht auch nicht ganz falsch - als Anleitungen zur Angleichung und als Hilfestellungen zur Konformität zu verstehen.

 

Buchhandlungen wie >Ypsilon< in Frankfurt, >Roter Stern< in Marburg, >Proust< in Essen, >Georg Büchner< in Berlin oder der >Andere Buchladen< in Köln sind vielleicht auch als Szenebuchhandlungen richtig beschrieben. Ihren Geschäftführern und Mitarbeitern nicht allein, auch den Kunden dieser Buchhandlungen ist Konformität, zu denen für sie Ratgeberreihen zu gehören scheinen, das pure Grauen. Man muss allerdings nicht gleich unterstellen, dass die Verächter des Ratgebers Norbert Elias Werk gelesen haben. Es reicht aus, diesen kulturkritischen Habitus anzunehmen und als niveauvolle, individualistische Haltung zu kultivieren. Im Übrigen verkennt diese überaus kritische Haltung gegenüber Ratgebern, den Eigensinn der Zielgruppe. Die Empfehlungen der Ratgeber werden weder aus dem einzelnen Ratgeber 1 zu 1 übernommen, noch wenn Ratgeber über Jahrzehnte eindeutige Ratschläge geben. Über Jahrzehnte wurde in Ratgebern das Stillen empfohlen. Davon völlig losgelöst, folgte nach Untersuchungen die Entscheidung der Frauen selbst zu stillen oder Flaschennahrung einzusetzen, ganz eigenen Kriterien. Die Folgsamkeit der Kunden für Ratgeber stellt man sich also auch bei den Kulturwissenschaftlichern eine Spur zu naiv vor. Der Kulturanthropologe Timo Heimerdinger stellt dazu fest: „Mit der normativen Wucht und der Alltagsgängigkeit der Ratgebertexte kann es also nicht so weit her gewesen sein, wie die Forschung in weiten Teilen nahelegen möchte.“ Auch Ratgeber-Kunden meinen: „Eigensinn macht Spaß“ (Hermann Hesse).

 

Bei Ratgebern im Weiteren Sinn erklärt sich die Distanz sicher auch aus Gründen unterschiedlicher Herkunftmilieus. Während die Bastel-, Reparatur- und Verschönerungsratgeber sich an Milieus wenden, die man stark dem Harmoniemilieu zurechnen kann, zählen sich >literarische Buchhändler< sicher eher zum Selbstverwirklichungsmilieu. (vgl. Gerhard Schulze: Erlebnisgesellschaft) Es mag im übrigen auch kein Zufall sein, dass die ersten Diskussionen um Zielgruppen in den Ratgeberverlagen vor allem bei Gräfe & Unzer begann. Heute fehlen in keiner Marketingbesprechung der Verlage, auch keinem belletristischen übrigens, die Sinusstudien der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK).

 

Ein weiterer zwischen „Literatur“ und „Ratgeber“ nicht vermittelbarer Sachverhalt liegt in der Sichtweise der letzten einhundert Jahre Buchhandelsgeschichte als Befreiungsgeschichte. Damit ist gemeint, dass den ausgeschlossenen, benachteiligten Milieus die Literatur durch den verbreitenden Buchhandel erschlossen und zugänglich gemacht wurde. Der Zugang zur Kultur wird darin als Akt der Befreiung gesehen. Eine Auffassung, die den aktuellen Überlegungen zu open access oder Wikileaks nicht unähnlich ist. An der Segmentierung der Literaturgeschichten in Arbeiter-, Frauen- und später dann Schwulenliteraturgeschichten lässt sich diese Erzählstruktur ebenso finden.

 

Aus der Sicht der Marktbeobachter, die ohne kulturpolitische Prägung die Entwicklung betrachten, kann sich die Geschichte der kulturellen Entwicklung der letzten einhundert Jahre ganz anders darstellen. Zumal, wenn man eine gleichsam >außerliterarische< Perspektive einnimmt. Dann ist die Geschichte des Buchhandels eine Markterschließungsgeschichte. In dieser Version steht das Wachstum der Verlage im Mittelpunkt, das - immer wenn es an eine Grenze kam - neue Käuferschichten zu erschließen hatte. Das Programm diversifiziert, die Ausstattung passt sich an, die Preise sinken. Die Befreiung erscheint in dieser Perspektive als bloße Absatzerweiterung, in der bislang ausgeschlossene Milieus als Neu-Kunden erschlossen werden.

 

Zu fragen wäre allerdings, was die treibende Kraft der Entwicklung ist, der Druck von „der Straße“, endlich auch an den Bildungsgütern teil zu haben, oder die schiere Notwendigkeit wirtschaftlichen Wachstums, die neue Absatzkanäle und Absatzgruppen erforderlich macht? Also Befreiungsgeschichte oder Markterschließungsgeschichte? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht einfach, denn aus der Sicht der Verleger, vor allem in ihren Festschriften gibt es nur die letztere Version zu lesen.

                       

aus: Warengruppen im Buchhandel, Bramann Verlag 2011, S. 88-90.



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