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Die elektronischen Reiter. Die Zerstörung der Wertschöpfungskette als Selbstzerstörung der Kreativwirtschaft
von Michael Schikowski
Das elektronische Lesegerät ist ein faszinierendes Ding. Es ist das Ding der unbegrenzten Möglichkeit, alle Bücher zu lesen. Als Ding im wörtlichen Sinne sieht man es allerdings weniger. Wenn man vom Fernsehen spricht, meint man ja auch nicht den Kasten bei sich zu Hause im Wohnzimmer. Man meint damit alles, was bisher gesendet wurde und noch gesendet wird.
Ab igne ignem – Feuer vom Feuer hieß es im Altertum, denn wenn ich Feuer von meinem Feuer gebe, erleidet mein Feuer ja keinen Verlust. In ähnlicher Weise scheinen sich nun elektronische Bücher nahezu unerschöpflich verbreiten zu lassen. Ohne Verlust. Und alle gewinnen. Das E-Book muss nicht transportiert werden. Es muss nicht in einer Buchhandlung beleuchtet und beheizt werden. Das E-Book steht immer und überall zur Verfügung, sofern man über ein entsprechendes Lesegerät verfügt. Danach ist das E-Book ein Ding, das sensationell umstandslos ist.
Vor diesem Hintergrund erscheint alles andere als umständlich und gestrig. Im DE:BUG. Magazin für elektronische Lebensaspekte schreibt Sascha Kösch in der Oktober-Ausgabe: „Auf der anderen Seite stehen all die Frustrierten, die nie einen Fuß in die Verlagswelt bekommen, aber überall neue Möglichkeiten wittern, erst im Netz, auf eigenen Blogs, mit dem Potential viraler Verbreitung und etablierten Online-Geschäftsmodellen ähnlicher Art.“ Buchmarkt und Verlage scheinen im Verbund mit dem Feuilleton anderen den Zugang zu verweigern. So wittern die Kreativen an den Schnittstellen von Musik, Medien, Kultur und Design durch das E-Book Morgenluft. Die Zukunft verspricht ihnen endlich eine Besserung ihrer wirtschaftlichen Basis.
Der Kampf um Aufmerksamkeit
Schon jetzt sind rund 170. 000 der über die Künstlersozialkasse Versicherten, zu denen auch die freien Publizisten und alle weiteren Sparten der Kreativen gehören, auf ein Einkommen angewiesen, das durchschnittlich unter € 14.000 im Jahr liegt. Diesen muss das Versprechen auf Einsparung aller Zwischenstufen vom Verlag bis zum Buchhandel sofort einleuchten. Die Umgehung genau der Institutionen, die ihnen die Aufmerksamkeit, den Zugang und vor allem die Geldmittel verwehren, ist ihnen sogar ein Anliegen.
Als zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Buchhandlungen größere Schaufenster aufkamen, wurden Buchumschläge eingeführt, um die Bücher von der Straße aus sehen zu können. Als die Bücher den Kunden nicht mehr auf Anfrage über den Verkaufstresen gereicht wurden, sondern in den Regalen und auf Tischen lagen, steigerte sich die Bedeutung der Umschläge nochmals erheblich. Heute werden Buchumschläge und auch der Buchblock optisch wie haptisch aufwändig und raffiniert gestaltet. Umschlag und Buchblock sind also kulturelle Einrichtungen, die ganz bestimmte Aussagen über das Buch oder Versprechen an den Leser transportieren. Gleicherweise sind der Verlag und sein Programm, innerhalb dessen das Buch erscheint, sowie die Buchhandlung und das Ambiente, innerhalb dessen das Buch zum Kauf angeboten wird, das Buch umgebende, es heraushebende kulturelle Einrichtungen. Von der Wahl der Typografie bis zur Präsentation im Bücherstapel handelt es sich hierbei um Einrichtungen, durch die Texte allererst sichtbar werden.
Der Umschlag des Buches ist eine visuelle Kommunikation seines Inhalts, der Buchblock und der Prägedruck auf dem Umschlag seine haptische Kommunikation. Das Buch wird im Verlagsprogramm und auf Büchertischen in einen Zusammenhang gestellt, der über das einzelne Buch weit hinaus geht. In unzähligen Gesprächen wird das Buch weiter getragen. Man muss sehen, dass in jedem einzelnen genannten Punkt, jedes einzelne Buch Gegenstand einer Wertschöpfungskette ist, die das Buch wesentlich verändert.
Bücher als Sparschweine
In der Regel wird innerhalb der E-Book-Ideologie dieser Sachverhalt aber so verstanden, dass hier ein Aufwand an Material und Gestaltung am physical book,wie man es in der Community nennt, eingespart werden kann. Nicht anders kann der Transport und die Bevorratung des Buches eingespart werden. Schließlich kann, wenn das E-Book über das Netz verkauft wird, der Buchhändler, der Literaturagent, ja sogar der Verlag eingespart werden. Wem kommt zu Gute was hier eingespart wird? Den Autoren und nur den Autoren. So jedenfalls die gängige Meinung.
Nach der Vorstellung von Sascha Kösch ist der Buchmarkt eine geschlossene Gesellschaft und daher das E-Book vor allem ein Instrument, wie es bei ihm wörtlich heißt, „die Verlage zu umgehen“. Sofern Buchmarkt und Verlage allerdings prinzipiell chancenreiche und für jeden offen stehende Institutionen sind, funktioniert diese Erzählung nicht. Daher ist es notwendig, in der Verlags- und Buchhandelsbranche einen Popanz aufzubauen und es fallen bei Sascha Kösch Sätze, die der Community sofort einleuchten müssen: „Der Buchmarkt ist in vielen Ländern heilig. Immer noch.“ Die Unkenntnis der Community über den Popanz Verlagsbranche lässt sich an einem einfachen Versuch demonstrieren, den jeder selbst unternehmen kann: Lassen Sie den E-Book-Ideologen nur die Anzahl der festen Mitarbeiter im Verlag Kiepenheuer & Witsch (den er zumeist kennt) schätzen. Die Antworten, die ich hörte, lagen nie unter 200!
Wer wissen will, wie es als Autor ist, unter den Bedingungen des E-Books ohne funktionierenden Buchhandel, Zwischenbuchhandel und Verlag, auf dem Markt zu bestehen, der schaue nicht in die Zukunft. In Balzacs Verlorenen Illusionen ist das alles nachzulesen. Lucien de Rubempré versucht seinen Roman Der Bogenschütze Karls IX. unterzubringen und muss hören: „Wenn wir Bücher auf eigene Rechnung herstellen, sind das Geschäftunternehmungen, wegen deren wir uns an gemachte Namen wenden.“ Die als unbegrenzt und frei bezeichneten Möglichkeiten der elektronischen Zukunft sind in Wahrheit Freiheiten, die alle auf Rechnung der Autoren laufen werden.
Bücher aufwändig zu gestalten und umständlich zu bevorraten und in diversen Verwertungsstufen vom Verlag bis zur Buchhandlung zu vertreiben, ist aus der Sicht der E-Book-Ideologen ein fast schon idiotischer Aufwand. Man muss es ihnen also immer wieder sagen: All dieser Aufwand wurde und wird betrieben, weil sich das Buch schlicht besser verkauft als ohne. Ein Aufwand, mit dem sich in den letzten 150 Jahren die Verdienstchancen der Kreativen extrem verbessert haben.
Der finanz-digitale Komplex
Angesicht der unbegrenzten Möglichkeiten des E-Books muss man also die Betrachtungsweise ändern. Wer ein Buch in einer Auflage von 3.000 Exemplaren druckt, stellte unter den Bedingungen von 1980 Öffentlichkeit her, sorgte für die Verbreitung des Buches. Unter den heutigen Bedingungen der möglichen Allverbreitung eines elektronisch gespeicherten Textes erscheint die Sache in einem ganz anderen Licht. Nun sorgen 3.000 gedruckte Exemplare eines Buches für seine Verknappung. Das Buch ist dann nur an dem Ort einsehbar, an dem sich mindestens eines der 3.000 Exemplare befindet. Undiskutiert ist bislang, dass das E-Book ja nur unter stark eingeschränkten Bedingungen den Besitzer wechselt. Vielleicht wechselt es überhaupt niemals den Besitzer, sondern bleibt stets nur immer dieses eine Exemplar, zu dem gegen Geld Zugang gewährt wird. Eine einstweilige Verfügung gegen das Buch, ein politischer Richtungswechsel, eine religiöse Konversion des Autors – all dies könnte zu einer plötzlichen Sperrung des Zugangs führen. Eine Möglichkeit, die bei einem gedruckten und bereits verkauften Buch so nicht besteht.
Man muss in all dem keine finanz-digitale Verschwörung sehen, aber hier zeigen sich Möglichkeiten, die von der digitalen Community auch nicht einmal im Ansatz kritisch reflektiert werden. Die Diskussionen und Umgangsweisen mit den Tatsachen der elektronischen Entwicklung gleichen der geistigen Ödnis der Berichte aus der Finanzwirtschaft. Wie diese sich angewöhnt hat, dem Wetterbericht zu gleichen, bei dem es eben Regen gibt und zu nicht mehr aufgerufen wird, als sich einen Schirm zu kaufen. So gibt man sich dem scheinbar Unvermeidlichen hin.
Prekär lebende Kreative und autoaggressive Etablierte möchten lieber heute als morgen ein System untergehen sehen, das erstere zurückweist und letztere langweilt. Wessen Geschäft sie damit auch betreiben, ist ihnen selten klar. Denn wer gewinnt wirklich? Ein finanz-digitaler Komplex, der alle Spezifitäten einebnet und, zunächst an allen Stationen der Wertschöpfungskette mitverdienend, jedes einzelnes Glied der Kette optimiert. Inzwischen wird klar sein, was unter dieser Optimierung zu verstehen ist. Branchenfremden, die in der Branche zunehmend das Sagen haben, fehlt – das verbindet sie mit einigen Kreativen – das Verständnis, welche Wertschöpfung im funktionierenden Buchhandel statt findet. Verständnis hier allerdings nicht im Sinne der Nachsicht verstanden. Es fehlt ihnen das Verständnis aus Mangel an Bildung. Sie sehen keine Wertschöpfung, sondern lediglich Funktionen: Bevorratung und Besorgung. Optimierung heißt dann hier, alle Faxen weg zulassen und die Funktion von Bevorratung und Besorgung Aushilfen zu übertragen. Optimierung ist damit objektiv Zerstörung der Wertschöpfungskette.
Buch und E-Book gehören in den Zusammenhang einer breiten Entwicklung: Internet anstelle der Zeitung, Facebook statt Kegelclub. Da die neuen Kulturtechniken der Informationstechnologie jedoch auf den alten Kulturtechniken fußen, werden enorme Anstrengungen der Bildungsinstitutionen erforderlich sein, die Basis zu erhalten. Ein Unterricht, der sich nur an den vorgeblich so anderen und neuen Kulturtechniken ausrichtet, verliert seine eigenen Voraussetzungen aus dem Blick, die in den alten Kulturtechniken liegen. Wer nicht im Lexikon nachzuschlagen gelernt hat, kann auch Google nicht nutzen. Wer nicht ausdauernd zu lesen gelernt hat, ist auch beim E-Book überfordert. Wer in beiden Kulturtechniken unzureichend ausgebildet ist, dem fehlt es an der Möglichkeit, eine Wertschöpfungskette auch nur sehen zu können.
Pisa-Schock 2025
Es fragt sich, wie schnell der Gesellschaft die Notwendigkeit des Gegensteuerns plausibel wird und wie viel ihr das Gegensteuern wert ist. Schon jetzt sind uns Buchhandel und Verlage eine Menge wert. Die niedrigere Mehrwertsteuer, die Preisbindung und zahlreiche Fördermaßnahmen von Literaturpreisen bis Festivalzuschüssen, aber auch der (wenn auch gekürzte) Bibliotheksetat zeigen das. All dies wird weiterhin und in verschärfter Form von der Bereitschaft der Gesellschaft abhängen, sich Bücher, Verlage und Buchhandlungen als notwendige Wertschöpfungskette kultureller Güter zu leisten.
Was nützt ein historischer Roman wie Der Bogenschütze Karls IX., wenn er ohne diejenigen bleibt, die glauben, dass es sich um einen großartigen Roman handelt? Was geschieht in diesem Fall mit einem E-Book? Es bleibt ebenso „ungeladen“, wie ein Buch, über das niemand spricht, in der Buchhandlung liegen bleibt. Da nun aber im Falle des E-Books Umschläge und Buchblock als Gestaltungsplattformen nicht mehr bzw. als bloße unsinnliche Abbildung existieren, wird es nicht etwa einfacher, sondern schwieriger, ein E-Book überhaupt zu verkaufen. Selbst für etablierte Autoren wird schon das Verkaufen schwierig und das Verteidigen der Verwertungsrechte unmöglich.
Die abgehängten Follower
Die spanische Autorin Lucía Etxebarria teilte Mitte Dezember 2011 ihren Lesern über facebook mit, dass sie aufgehört habe zu schreiben. Von ihren Romanen, die auch schon ins Deutsche übersetzt wurden, werden nach ihrer Erfahrung inzwischen mehr illegale Kopien im Internet verbreitet, als in den Buchhandlungen gekauft. Dass man gar nicht auf die Idee kommen dürfte, von einem Text auch etwas zu haben, liest man nun allenthalben! Zugleich wird dabei das Modell des Künstlers, der wirklich muss, aus dem 19. Jahrhundert bemüht, der dann aber, wenn er es lässt, eben kein Künstler sei. Hier bekommt Lucía Etxebarria nur das furchtbar selbstlose Lebensmodell der digitalen Kreativen entgegen gehalten, die derweil weiter die Texte anderer online stellen. Eine Selbstlosigkeit ohne Selbst. Hier zeigt sich auch: man muss, wenn man publiziert, nicht allein verkaufen, man muss das Publizierte auch verteidigen können. Dies gelingt Lucía Etxebarria nicht einmal mit einem Verlag im Rücken. Wie sollte das dem E-Book-Einzelkämpfer je gelingen?
In diesem Zusammenhang ist es vielleicht wichtig zu sehen, dass in Spanien nicht allein die Internetpiraterie ein derartiges Ausmaß angenommen hat, dass sich die Kultur, um es wertfrei zu sagen, transformiert. Die erschreckend hohe Zahl an arbeitslosen Jugendlichen in Spanien muss dazu ins Verhältnis gesetzt werden. Aus der kulturellen und sozialen Desintegration der Kulturfolger, die sich abgehängt fühlen, lässt sich relativ mühelos ihre digitale Aggression ableiten. Für Deutschland fragt sich bereits Kiepenheuer & Witsch-Verleger Helge Malchow im Börsenblatt (51/2011): "Die interessante Frage für mich ist aber, woher diese Emotionen kommen, woher diese Aggression?" Nach dem "Ausmaß von Polemik und Sarkasmus auf den Social-Media-Plattformen" gefragt, zeigt er sich überrascht "über diese rhetorischen Punkkonzerte, die da gegeben wurden." Woher diese Häme, woher die Aggression?
Wenn Malchow fünf neue vielversprechende und gute Autoren verlegt, düpiert er inzwischen hunderte andere, wenn das Feuilleton Katja Kullmann erwähnt, sehen sich hunderte andere unerwähnt. In jeder Nennung konstituiert sich ein Außerhalb, das bislang jeder mit sich selbst abmachen musste. Nun ist das Außerhalb spinnwebenfein vernetzt und als Community digital abgebildet. Aus dieser Community rekrutieren sich dann die Follower, die sich langsam darüber klar zu werden beginnen, dass sie vielleicht gar keine Kulturfolger sind, sondern eigentlich durch Unterhaltungsbrösel auf Abstand gehaltene Abgehängte.
Zeigt die Entscheidung der Spanierin Lucía Etxebarria nicht auch ein wenig, dass nun Bedingungen eintreten, durch die bestimmte Großformate der Kultur wie der Roman ihre ökonomische, soziale und kulturelle Bindekraft verlieren? Vielleicht lässt diese Emigration der potenten Kulturschaffenden – viele finden ja längst als Drehbuchautoren ein gutes Einkommen – bloß noch digital Partikularisierte zurück. Der Partikularisierung der Schreibenden, lässt sie sich bereits an den zahllosen Kulturpartikeln ablesen, die Sascha Lobo, Tim Renner, Kathrin Passig, Jo Lendle, Steffen Meier, Martin Sonneborn und andere per Twitter oder Facebook mal als feinsinnige Beobachtung, mal als Satzkrümel ausstreuen?
Die elektronischen Reiter der strukturellen Apokalypse, die sich noch für die Cartwrights aus Bonanza halten, werden sich noch wundern, wie abgrundtief ihr Einkommen sinken wird, wenn die grüne Wiese ihrer kreativen Experimente von den Globalanbietern, sei es nun Google, Facebook oder Amazon, reguliert wird. Sie bilden den finanz-digitalen Komplex. Die finanziellen Möglichkeiten dieses Komplexes unterspülen nicht allein die Verlagsbranche und den Buchhandel, sondern zugleich alle Bildungsinstitutionen. Erreicht wurde diese Marktmacht durch bloße Konvertierung der Bildungsinhalte in digitale Formen.
Tüte, Tasche – box it
Das Marketing ganzer Branchen versucht das Unsichtbare, eine Dienstleistung beispielsweise, greifbar zu machen und anschaulich zu verpacken. Die „Verpackungen“ des Buchs, der Umschlag, die das Buch umgebende Verlagsprogrammatik, aber auch das Ambiente gehobener Kulturgüter in der Buchhandlung, die allesamt das einzelne Buch zehnmal ja manchmal hundertmal besser verkaufen als ohne, müssen nun also ersetzt werden.
Was jedoch für die Wertschöpfungskette im öffentlichen Raum gilt, in dem Verlage, Buchhandel und Presse die wichtigsten Akteure sind, gilt ebenso für den privaten Raum. Auch hier bedroht das E-Book die Wertschöpfung, die die Bücherwand als kulturelles Kapital bedeutet. Wie lange wird das noch so sein, dass die Bücherwand gegen den spricht, der sie hat?
Die Rhetorik des gestalteten Buchkörpers
Gute Texte, heißt es, setzen sich immer durch. Das ist vielleicht richtig, zumindest aber zu hoffen. Die sinnliche Erfahrbarkeit der Texte, ihre Verkörperung im so oder so gestalteten Buchkörper wird notorisch unterschätzt. Wer Leseproben auf dem Bildschirm oder ein Skript auf Papier mit dem Erlebnis eines in die Hand genommen Buches vergleicht, erfährt unmittelbar, wie schwer es dem Bildschirm wie einer bloßen Kopie einzelner Seiten fällt, den Text zu plausibilieren. Das auditive Erlebnis des Buchkörpers, der beim ersten Öffnen knackt, seine olfaktorische Reizung, wenn dem frisch geöffneten Buch ein eigentümlicher Geruch entströmt, die haptischen Qualitäten des Umschlags, des Papiers, des Gewichts des Buchkörpers und die weiteren ästhetischen Anmutungen von der Farbgebung bis zu Typografie – all dies ist keine sentimentale Beschreibung eines Buches, keine Romantik der Handgreiflichkeit!
Es handelt sich vielmehr um eine vollkommen unsentimentale Wertschöpfung, die sich als Rhetorik eines gestalteten Buchkörpers interpretieren lässt. Wem sich da nichts mehr vermittelt, der zugleich aber Entscheidungsträger der Branche ist, fühlt sich um so großartiger, je mehr es ihm gelingt, die Branche nach dem Vorbild seiner Wahrnehmungsdefizite zu modellieren.
Das physische Buch wird sich daher nicht einfach erhalten, nur weil es taktil und ästhetisch erlebbar und daher seinem digitalen Schatten jederzeit überlegen ist. Zur Wahrnehmung zentraler Kulturgüter bedarf es ausgebildeter Organe, die sie verstehen oder zumindest wertschätzen. Da die zentralen Kulturtechniken veröden oder wie in Hamburg, wo die Grundschulen nun zwischen Schreib- und Druckschrift wählen dürfen, sich geradezu selbst abzuschaffen beginnen, arbeiten zu viele Kräfte einer Entwicklung zu, die, da nicht zu verhindern, auf gespenstische Art und Weise rabiat herbeigeführt werden muss.
Das Bewusstsein der Verluste
Vielleicht wird sich nun verstärkt zeigen, dass die Kreativen, die am Anfang der Wertschöpfungskette der Branche stehen, auf Grund der Unmöglichkeit ein auch nur geringes Einkommen zu erwirtschaften, dieser den Rücken kehren. In der Mitte der Kette steht der Buchhandel, der sich in der Branchenpresse vergeblich nach Gegenargumenten umsieht. Wer sich hier nicht augenblicklich in der Rolle des Grüßonkels einer als unvermeidlich dargestellten Entwicklung geriert, wird geschmäht, wie Gottfried Honnefelder im Blog von Leander Wattig. Letzterer wird nun für seine ausgestellte Zackigkeit, die die ganze Community kennzeichnet, ab 2012 in St. Gallen als Lehrbeauftragter ins Geschirr genommen.
Von den digitalen Followern, die die Entwicklung bislang mit einer verblüffenden Wurschtigkeit kommentierten, ist augenblicklich absolut nichts zu erwarten. Und am Ende der Wertschöpfungskette werden die Abnehmer schon gleich so eingeschult, dass sie im System der Druckbuchstaben jede leibliche Selbstwahrnehmung im Schreiben verlieren. Vielleicht ist die traurige Tatsache, dass hier etwas Unwiederbringliches verloren geht, nicht so schlimm, als dass sich hier ein Zugang endgültig schließen könnte.
Die Anpassungsleistungen der Branche werden von der Community weiterhin, ganz gleich ob Verleger diese nun offen legen oder sich bedeckt halten, mit Gehässigkeit belegt. Daran lässt sich ganz gut die Verantwortung der Verleger für Autoren, Mitarbeiter und Mitstreiter im Unterschied zur systematischen Unverantwortlichkeit bloß digital Vernetzter sehen. Vielleicht wird die Branche ja auf das Niveau von 1960 zurückfallen, in Hinsicht der Anzahl der Buchhandlungen und auch in Hinsicht des Buchangebots. Dass allerdings die weiteren hoch entwickelten Funktionsbereiche der Branche, wie Literaturhäuser, Literaturfestivals und Literaturförderung, in denen kein geringer Teil der Community jetzt noch ein Teilauskommen finden mag, davon unberührt blieben, ist kaum anzunehmen. Aber auch hier scheinen sie nichts zu ahnen, die Aussichten des Social Media sedieren augenblicklich eine ganze Generation.
Das Bewusstsein über die Verluste einer lebendigen Buchkultur zu erhalten, bedeutet an den finanz-digitalen Komplex nicht mehr abzutreten als unbedingt notwendig. Das Bewusstsein der Verluste mag außerdem helfen, der Kreativwirtschaft – es ist in der Tat so, dass es Kreative ohne wirtschaftliche Basis nicht geben kann – und der Branche einige Argumente gegen eine als unvermeidlich dargestellte Entwicklung an die Hand zu geben.
Ein Bild von einem Buch
Über die Buchgestaltung hinaus haben Autoren und Verlage auch das Problem zu lösen: Wie wird das Buch zum öffentlichen Gespräch? Hinsichtlich dieser Aufgabe unterscheiden sich E-Book und Buch überhaupt nicht! Und doch kann man den Unterschied zwischen einem Buchumschlag, der einen physischen Buchkörper umschließt, und einem E-Book, zu dem sich auf dem Bildschirm lediglich die Abbildung eines Umschlags findet, nicht häufig genug betonen.
Aber sind nicht gerade Buchhändler und Verlagsbuchhändler schon geübt darin, anlässlich der Vorschau über Bücher zu sprechen, die es noch gar nicht gibt? Die Technik ist in der Herstellung hocheffizient und überaus schnell. Mitunter erscheinen Bücher nach weniger als vierzehn Tagen aufgrund eines Ereignisses. Aber das wird immer eine Ausnahme bleiben, denn Büchermachen entscheidet sich weniger an der Schnelligkeit der Maschinen als an der Dauer des Nachdenkens, beim Schreiben nicht weniger als beim Lesen.
Dadurch, dass der Buchhandel auch als Markt gesehen wird, beginnt er sich selbstnur noch als Markt misszuverstehen. Bereits als sich dieser Markt zu etablieren begann, gab es unter Schriftstellern den Verdacht, dass er nur Markt sei: „Was er von dem Kauderwelsch verstanden hatte“, heißt es nach Luciens Begegnung mit der Buchhandels- und Verlagsbranche im Paris um 1830, „ließ ihn erraten, dass für die Buchhändler Bücher dasselbe waren wie für den Weißwarenhändler Nachtmützen, eine Ware, die man billig einkauft, teuer verkauft.“
Eine gekürzte Version dieses Textes erschien im BuchMarkt Januar 2012.
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