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"Überwucherung durchs Secundäre". Der Literaturbetrieb als Transportsystem ohne Inhalt

von Michael Buchmann

Fritz J. Raddatz. Copyright: Das blaue Sofa / Club Bertelsmann
Fritz J. Raddatz. Copyright: Das blaue Sofa / Club Bertelsmann

In Raddatz Tagebüchern 1982-2001 finden sich zunächst einmal recht eindeutige und wenig interpretationsbedürftige Aussagen über den Zusammenhang zwischen Literaturbetrieb und Ökonomie: „[...] alle sitzen wie die hungrigen Vögel mit aufgesperrtem Schnabel und denken: 'Geld, Stipendien, Preise.' [...] wir sitzen und reden über Geld, […]“. Interessanter als das Offensichtliche ist die Schilderung der Verkennung des Offensichtlichen, insbesondere durch Literaturwissenschaftler: „[...] 'Ordinarius' F. K., der mir geradezu stolz erklärte, er sein nun 'voll Hochschullehrer' und interpretiere nur noch Texte, ohne Mätzchen – […]. Mein Gott – Fichte selber ist schon fragwürdig genug, und der lächerliche Eifer, mit dem man nun in seinen 'Hörspielen' z. B. herumstochert (die doch in Wahrheit NIE Hörspiele waren, sondern Funkarbeiten, die er dazu deklarierte, weil sie das doppelte Honorar eines Features brachten; so einfach ist das); zu lächerlich.“

Neben dem Streben nach ökonomischem Gewinn kann man in den Schilderungen der vielen literarischen Kollegen immer wieder auch das Bedürfnis nach symbolischem Gewinn finden. Raddatz beobachtet die jeweiligen Verhaltensweisen und Positionierungen sehr genau und mit einem Blick fürs Subtile, weshalb er weniger moralisierend die Eitelkeit oder Ruhmsucht anprangert, sondern vielmehr beklagt, dass durch die zum Teil ausschließliche Konzentration aufs Strategische der Inhalt zur Bedeutungslosigkeit verkomme: „[...] daß in diesem Rattennest man Ober-Ratte wird, wenn man sich als besonders bissig erweist. Kein Lob oder Verriß eines Buches gilt im Grunde diesem Buch, sondern immer ist das munitioniert von irgendeinem 'dem werd ich's mal zeigen'. Das verkommt zum Gesellschaftsspiel; […] Die Überwucherung durchs Secundäre wäre ein schönes schauriges Thema. Wenn man Äußerlichkeiten secundär nennen darf, dann muß festgehalten werden, daß Äußerlichkeiten inzwischen auch die sogenannte literarische Kritik bestimmen.“

 

Zu einem intelligenten Tagebuch gehört notwendigerweise auch, dass es seine eigene Rolle bzw. die des Autors reflektiert. Der Klappentext des Rowohltverlags, dessen stellvertretender Leiter Raddatz war, legt lediglich eine Zurückführung dieser Rolle aufs Psychische nahe, der Autor als „Hypochonder, Misanthrop, Zweifler“. Hierbei wird das allzu Offensichtliche des Literaturbetriebs übersehen, etwas, das eine direkte Folge dessen ist, was Raddatz die Überwucherung durchs Sekundäre nennt. Denn als Gatekeeper im Literaturbetrieb ist man mit zwei Dingen konfrontiert: erstens mit der Reduzierung auf eine Rolle in der literarischen Öffentlichkeit: „Meine ewige Rolle, wenn die Leute wüßten, wie mir eigentlich zumute ist; […] Man ist ein dressierter Pudel, von dem man für sein Honorar gute Laune, witzige Anekdoten und nächtelange Trinkfestigkeit verlangt.“ Seine Klagen über die Erwartungshaltung des Publikums kann man im Umkehrschluss allerdings nicht nachvollziehen: wer ökonomisch von seiner Rolle derart profitiert wie Raddatz, der kann sich über die Erbringung einer Gegenleistung nicht glaubwürdig beschweren.

 

Und zweitens wird man damit konfrontiert, dass diese Ablösung vom Inhalt dazu führt, Leistungen auf dem Feld des Literaturbetriebs weniger nach ihrem inhaltlichen Wert/Gebrauchswert, sondern eher nach den verschiedenen Zuschreibungen zu bewerten, wovon wiederum – zumindest teilweise – die Selbsteinschätzung abhängt: „Auch da macht mich die Differenz zwischen öffentlicher Verdammung und privater Zustimmung ganz wirre; was stimmt nu?!“ Diese Rollenhaftigkeit und diese Abhängigkeit von meist widersprüchlichen Fremdzuschreibungen führt zwangsläufig nicht nur zu Stimmungsschwankungen – die also zunächst einmal keiner Rückführung aufs Psychische als Erklärung bedürfen – sondern darüber hinaus auch dazu, dass die eigene Tätigkeit selbst immer weniger aufs Inhaltliche sondern immer mehr aufs Rollenhafte bezogen wird: „Wenn er nur wüßte, daß ich bereit wäre, die ganze Scheiß-Intellektualität hinzuwerfen […] In diesem Kotz-Beruf habe ich nun Jahrzehnte meines Lebens verbracht, um nicht zu sagen mich verbraucht?“

 

Zurück zur Selbstreflexivität eines Tagebuchs: das Tagebuch kokettiert mit seiner eigenen Rolle insofern, als Raddatz es im Vagen zwischen Selbstzweifel und Gedrängtwerden lässt, ob es zur Veröffentlichung bestimmt war: „Auch aus der Balance geworfen, weil ich nun garnicht mehr weiß: Habe ich in der letzten Zeit, den letzten Jahren gar, das Tagebuch doch schielend auf eine Veröffentlichung geschrieben – – – […]“ Viel interessanter aber als die Frage, ob der Autor von Anfang an die Veröffentlichung geplant hat, ist der Umstand, dass sich alle Schriftstellerkollegen gemäß dem Wissen verhalten, in einem Tagebuch geschildert werden zu können: „Daß wir uns nun immer alle noch nächtens oder spätestens am nächsten Morgen per Tagebuch aufspießen wie Schmetterlinge und unter dem Glas-Sturz bösartig-lauernder Eitelkeit fixieren – hat ja auch was Komisches. […] Ich fürchte, zum Schluß leben wir nicht mehr wirklich (jedenfalls nicht 'normal'), sondern als Träger einer Rolle, die wir so oder anders fixiert sehen wollen.“ Man könnte auch sagen, dies sind Rollenspiele zweiter Ordnung insofern, als hier nicht nur eine Rolle eingenommen wird, sondern sich alle Beteiligten darüber bewusst sind, Rollen einzunehmen und gemäß dieser Rollenhaftigkeit beurteilt zu werden.

 

Dass diese Einschätzung keiner einzelnen isolierten Wahrnehmung entspringt, zeigen die Tagebücher 1966-1972 von Hans Werner Richter. Auch hier finden sich offenkundige Hinweise auf einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen Ökonomie und Literaturbetrieb. Richter schreibt zum Beispiel über den Schriftstellerkongress 1970 in Stuttgart: „Die Kameras waren wichtiger als die Schriftsteller. Es wurde nur von Honoraren, vom Bibliothekspfennig, von Altersversorgung gesprochen.“ Wesentlich wortkarger verhält er sich allerdings, wenn es um den Zusammenhang zwischen Ökonomie und der Gruppe 47 geht. So kritisiert er beispielsweise Martin Walser, weil er die Gruppe 47 in die Nähe des Literaturmarktes rückt: „Da er allein plötzlich anscheinend begriffen hatte, daß er in einer Warenwelt lebt, war die Gruppe 47 für <ihn> ein Markenartikel, ein Gütezeichen, für gut zu verkaufende Waren, eine Form, die Gruppe zu charakterisieren, die an Trivialität ihresgleichen sucht.“ Um dann gleich zum Gegenangriff überzugehen: „Nun sind sie mit ihrem neugegründeten Schriftstellerverband Lobbyisten geworden, die ihre eigenen materiellen Interessen vertreten, ein Interessenverband unter anderen. Ohne es zu merken, haben sie sich so dem kapitalistischen System angepasst, […] Seltsamerweise halten Leute wie Martin Walser dies für einen revolutionären Akt, ohne zu merken, daß es sich um einen Vorgang totaler Anpassung handelt.“ Auch andere potentiell konkurrierende Vereinigungen bzw. Gruppen wie die Dortmunder Gruppe 61 werden abgetan, wie auch die Kritik von Hans Erich Nossack und Robert Neumann 1966 in der Zeitschrift konkret. Dort wird die Gruppe 47 als „Literaturbörse“ kritisiert, war deren Kommerzialisierung doch augenfällig, nicht zuletzt durch immer mehr teilnehmende Verlagsmitarbeiter, Literaturagenten und Kritiker. Auch wenn sich die Gruppe selbst und ihr Gründer nicht so verstanden, konnten sie sich doch dem Zugriff des Ökonomischen nicht entziehen.

 

Das Rollenverhaftetsein wird auch in diesem Tagebuch beklagt, interessanterweise nennt Richter auch Raddatz, bevor er schreibt: „Immer nur Bonhomie, nicht mehr, nur dies! Verkleinern sie mich, um selbst grösser zu werden, um sich nichts zu vergeben, um dabei sein zu können? Verträgt ihr Selbstbewußtsein keine andere Auslegung?“ Zur Rollenhaftigkeit gehört auch, dass man je nach Rolle mit mehr oder weniger Macht ausgestattet ist und dass die Beziehungen oft weniger dem Individuum als vielmehr dem jeweiligen Inhaber der Rolle gelten. Helmut Heißenbüttel war das wohl bewusst, als er zu Richter sagte: „'Wenn Du alles aufgibst, wirst Du sehen, daß sich bald niemand mehr bei Dir meldet. Wenn Du keine Macht mehr hast, bist Du für alle nicht mehr interessant.' Damit hat er recht.“

 

Hans Werner Richter hat ein Jahr, bevor er begann Tagebücher zu schreiben, einen Essay veröffentlicht mit dem Titel „Warum ich kein Tagebuch schreibe“. Er zählt darin viele Gründe auf, die dagegen sprechen ein Tagebuch zu schreiben. Ob es eine Meinungsänderung gab oder ob es sich vielmehr um die klassische Doppelstrategie des inkongruenten Sprechens und Verhaltens handelt, kann im Nachhinein nicht mehr festgestellt werden. Auf der Hand liegt jedenfalls ein Vorteil des Tagebuchs: als Prominenter des Literaturbetriebs kann man durch ein Tagebuch die eigene Rolle im Literaturbetrieb interpretatorisch möglichst vorteilhaft verorten, wenn nicht sogar die Interpretationshoheit über bestimmte Geschehnisse erlangen – solange jedenfalls, solange Tagebücher als reine Tatsachenberichte gelesen werden und nicht gleichzeitig auf zweiter Ebene als taktisches Mittel wahrgenommen werden.

 


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