TexturenGeschichte
"Seit je ist mir jedes Buch verhasst gewesen". Stilisierung eines Außenseiters
von Michael Buchmann
Das Testament ist eine faszinierende literarische Gattung. Seine Faszination besteht vor allem darin, dass die Zuhörerschaft auf ökonomischen Gewinn aus der Verlesung eines Testaments hofft. Der Autor seinerseits nutzt diese erzwungene Aufmerksamkeit häufig, um genau diesen Zuhörern unliebsame Dinge mit auf den Weg zu geben. Und da der Autor ohnehin nicht mehr lebt, hat er auch keine Sanktionen von den so Gescholtenen zu fürchten.
François Villon übertrug diese Situation ins Literarische: zwischen 1456 und 1462 verfasste er das „Kleine Testament“ und das „Große Testament“. Sie unterscheiden sich von gewöhnlichen Testamenten dadurch, dass sie fiktionale Texte sind und die zu verteilenden Gegenstände und Zuwendungen rein fiktiv sind. Dieser literarische Kunstgriff erlaubte ihm, die zweite Funktion eines Testaments literarisch voll auszukosten: das nicht vorhandene Vermögen wird verteilt und die so Beschenkten entsprechend karikiert. Insbesondere die Doppelmoral des geistlichen Standes prangert er mit den satirischen Versen an: „Die Herren Bischofsräte, die/an Syphilisgeschwüren leiden,/erhalten Heilmittel sowie/durchlochte Sitzgelegenheiten./Jedoch dem saubren Jüngferlein/Macée, dem elenden Subjekt,/vergönne ich die Höllenpein,/denn sie hat alle angesteckt.“ (GT, CIX)
Natürlich vermacht Villon neben anderem auch Bücher: „Ich geb ihm meine Bibliothek,/auch den Roman vom 'Teufelsdreck',/von Maistre Tabarie, dem Lieben,/auf schönes Hanfpapier geschrieben./Er liegt am Tisch in einem Fach./Und sei er noch so schlecht und schwach,/der Stoff birgt so viel Sonderheit,/dass man die Sünde gern verzeiht.“ (GT, LXXVIII) Sogar eigene Texte werden eigens zum „Vererben“ verfasst, wie die „Ballade, die Villon auf Verlangen seiner Mutter machte, um zu Maria zu beten“ (GT, LXXIX). Überdeutlich wird die Selbstironie herausgestellt, wie in der Zeile „Seit je ist mir Gebetbuchlesen,/wie jedes Buch, verhasst gewesen.“ (GT, V) Eine überraschende Aussage für einen Magister Artium. Diese taktische Selbstironie passt sich aber genau in das Gesamtbild seines taktischen Verhältnisses zu seinen Texten überhaupt ein, was auch durch seine Biographie nahe gelegt wird.
Villon ist einer der ersten prominenten Vertreter des Künstlers als Bohémien. Zunächst schien sein Leben einen einschlägigen Gang zu gehen: er studierte in Paris und erwarb 1452 den Grad eines Magister Artium. Das weitere Studium brach er allerdings ab. Die Quellen hierzu sind spärlich, sicher ist nur, dass er 1455 einen Geistlichen erstach und aus Paris floh. Er wurde begnadigt, kehrte zurück, schloss sich kriminellen Banden an und wurde wiederholt wegen Diebstahls und Einbruchs verhaftet. In seinen Testamenten verfolgt er eine Doppelstrategie. Erstens, aber nur geradezu demonstrativ geringem Maße eine Selbstanklage: „Wenn in der Jugend ich studiert/und sittsamlich mich aufgeführt/und nicht so viel gelottert hätte,/so hätt ich jetzo Haus und Bette!“ (GT, XXVI) Um sich zu entlasten, ist es immer sehr wirksam, Dinge zu gestehen, die man offensichtlich nicht begangen hat, denn der Autor Villon hatte studiert, wenn auch über die Ernsthaftigkeit des Studiums nur soviel gesagt werden kann, dass er es doch immerhin zum Grad des Magister Artium gebracht hat. Die zweite und sowohl wesentlich häufiger als auch intensiver verfolgte Strategie ist eine Anklage der gesellschaftlichen Umstände, die einen Menschen seiner Lage zwangsläufig auf die kriminelle Laufbahn festlegten: „Die Not ist's, die uns Härte lehrt,/sie lockt den Wolf selbst aus dem Wald.“ (GT, XIX) und andererseits andere Kriminelle durchaus gesellschaftliches Ansehen genössen: „Doch andre meiner Spießgesellen/erreichten Ämter, hohe Stellen./Und andere sind Bettelleute,/des Hungers und des Elends Beute. […] Wie vielerlei sind sie geworden!“ (GT, XXX). Damit soll der Schluss nahe gelegen werden, die völlig divergenten Lebensläufe hätten vor allem in den ungerechten Umständen ihren Ursprung.
Villons Stilisierung als Outlaw ist das eine. Aber weder Villon selbst noch die intelligente Leserschaft wird diese Aussagen direkt und unreflektiert auf die historische Person beziehen. Denn die Aussagen des „lyrischen Ichs“ werden durchaus ironisch gebrochen vermittelt. Am schönsten wird dies in der Passage des Vermächtnisses an Jean de Calais zum Ausdruck gebracht, in der er die weitere Rezeption seines Testaments in seinem Sinne einem Mann anvertraut, von dem er annimmt, dass er sich nicht einmal an ihn erinnere: „Und da Monsieur Jean de Calais/(ein Mann vom Scheitel bis Zeh,/der mich gekannt als kleines Kind,/sich meiner schon nicht mehr entsinnt)/mein Sinnen und mein Denken kennt,/so möge er mein Testament/erklären, deuten, kommentieren,/verbessern, schildern und glossieren.“ (GT, CLIII)
Im Jahr 1462 wurde er zum letzten Mal verhaftet und zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde allerdings 1463 in zehnjährige Verbannung umgewandelt. Zu dieser Inhaftierung und dem anschließenden Todesurteil hat Villon einige Zeilen hinterlassen, die seine Taktik ebenfalls sehr gut verdeutlichen, seine Biografie mit seinen Texten vorteilhaft zu stilisieren und hier gibt es einen nachgewiesenen direkten Zusammenhang zwischen Text und Biografie des Autors. Einmal schrieb er einen „Rekurs in Form einer Ballade“ an das Parlament, der Schmeichelei und Selbstanklage sehr dick aufträgt. Zugleich schrieb er – ebenfalls in Balladenform – eine Rechtfertigung dieser taktischen Schmeichelei: „Garnier, was sagt Ihr zu meinem Appell? [...] Ein jedes Tierchen verteidigt sein Fell,/wenn man es martert und plagt. […] Drum tat ich's, und glaubt mir, wie nützlich das war!“
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