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Walter Benjamin: Wie erklären sich große Bucherfolge? "Chrut und Uchrut" - ein schweizerisches Kräuterbuch

Unsere Buchkritik ist an die Neuerscheinung geheftet. Kaum eines ihrer Kennzeichen, insbesondere ihrer Gebrechen, das nicht mit diesem Tatbestand zusammenhinge. Informationen lösen täglich oder stündlich einander ab. Erkenntnisse können die Geschwindigkeitskonkurrenz mit ihnen nicht aufnehmen. Da stehen denn Reaktionen zur Verfügung, die in den Rezensenten den literarischen Reizen (der Neuerscheinung) mit der gleichen Geschwindigkeit antworten, mit der die Bücher aufeinander folgen. Information und Reaktion – auf dem lückenlosen Zusammenspiel dieser beiden beruht die Schlagkraft des Rezensionsbetriebes. Und was da „Urteil“ oder „Wertung“ heißt, das ist nur die Stafette, die sie im Augenblick der Ablösung einander zuwerfen. Daß dem Verfahren, Bücher so zu „werten“, ein gänzlich anderes: sie erkenntnismäßig zu verwerten, entgegengestellt werden kann, bedarf keines Beweises. Da wird denn plötzlich der rein ästhetische Gesichtspunkt unzulänglich, die Information des Publikums Nebensache, das Urteil des Rezensenten belanglos. Dagegen treten eine Anzahl völlig neuer Fragen in den Vordergrund: Welchem Umstand verdankt das Werk Erfolg oder Mißerfolg? was hat das Votum der Kritik bestimmt? an welche Konventionen schließt es an? in welchen Kreisen sucht es seine Leser? Eine Bescheidung und Gesundung der Kritik, eine Sanierung, ist es, die mit solch neuem Blick sich anbahnt. Ihre Merkmale: unabhängig zu sein von der Neuerscheinung; wissenschaftliche Werke so gut zu betreffen wie belletristische; indifferent gegen die Qualität des zugrundegelegten Werkes zu bleiben. Niveau und Haltung, die sie im Journalismus verspielt hat, wird die Kritik an solchen Aufgaben am ehesten zurückgewinnen, den Anspruch auf Unfehlbarkeit von Reaktionen aber, auf den sie sich heute stützt, als widersinnig und anstößig fallen lassen. Daß die erkenntnismäßige Verwertung von Büchern mit ihrer literarischen „Wertung“ identisch würde, – dieses seltene Optimum der Kritik setzt nicht nur den vollkommenen Kritiker voraus: selbst er kann nur zu diesem Ziel gelangen, wo das große Werk sein Gegenstand ist.

 

Desto lockender, in diesem Bewußtsein einem kleinen sich zuzuwenden, das nicht weniger vollkommen zu sein braucht. Das Kräuterbuch des Pfarrers Künzle ist eine Schrift, wie nicht nur der Kranke, sondern auch der Rezensent sie sich dankbarer gar nicht wünschen kann. Der neue Rezensent wenigstens, an welchen hier appelliert wurde. Wo den alten die Wald- und Wiesenbreite volkstümlicher Literatur angähnt, lockt den neuen, materialistischer eingestellten, die grünste Weide. Grün ist natürlich der Umschlag des Buches und die Auflageziffern – botanische, wenn nicht astrologische Zahlen – genug, die Kräuter einer kleinen Trift zu zählen. 720. bis 730. Tausend – läßt dem neuen Rezensenten das Herz höher schlagen. Da hat er also eines der Bücher vor sich, für die Begriffe wie Kritik und Zeitungsinserat, Bibliothek und Sortimenter ihre Geltung verloren haben; ein Buch, unter dem die Meisterwerke der Literatur so winzig in der Tiefe liegen wie Festungen und Städte, Dome und Paläste unter den harten Gräsern der höchsten Almen. Und weil es das nächst der Bibel verbreitetste Buch der Schweiz sein dürfte, so ist es wohl auch natürlich, daß es – auf seine profane Weise – eine bibliographische Figur für sich macht. Man kann sogar sagen, daß sie, auf recht possierliche Art, das Gegenstück der biblischen ist. Oder wo hätte man sonst als erstes Titelwort, und noch dazu in fetten Lettern, lesen müssen: „Nachdruck verboten“? Dann folgen auf der zweiten Seite: „Worterklärung[en] für Nichtschweizer“, und unter ihnen wirbt eine Anzeige für eine Schulausgabe des Werkes, in der „alles, was für Schüler nicht paßt“, weggelassen ist. Seite 3 bringt eine Probe aus den lakonischen Vorworten, die das Buch auf seinem Wege durch die Hunderttausende geleitet haben. Zur Auflage 140 000-180 000: „Der liebe Gott hat meinem Büchlein Erfolg verliehen. Das Volk reißt sich darum, die alten ehrlichen Kräuter kommen wieder zu Ehren, und die Gütterli [Fläschchen] mit hochmütigen fremden Namen in Verdacht, Gott zur Ehr' und dem Volk zu Nutz wird das Schriftchen weiter gedruckt.“

 

Wer schon ein wenig geblättert oder zwischen den Zeilen zu lesen gelernt hat, der merkt: dem Volke zu Nutz, den Medizinern zum Trutz. Unter der Hand nämlich, aber nur desto störrischer geht es hier wie in aller Volksmedizin gegen die Ärzte. Ein echtes Paradox, ein nur scheinbarer Widerspruch ist es, daß die Schweiz, deren Ärzte europäischen Ruf haben, seit Paracelsus das gelobte Land jedweder Volksmedizin, von der fundiertesten Homöopathie bis zum windigsten Kurpfuscherwesen ist. Beides hängt gewiß mit dem Überwiegen bäuerischer Bevölkerung zusammen. Dem Bauer ist sein Körper an allen Teilen ein unentbehrliches Produktionsmittel; jeder Schaden, auch der beschränkteste, ist für den in der Landwirtschaft Tätigen schwerer zu kompensieren als für den Industriearbeiter. Daher das genaue Gefühl, das der Bauer für seinen Körper bekommt, aber auch die Eifersucht, mit der er über ihn wacht. Fest steht, daß Pfarrer Künzle sich beides zu Bundesgenossen gemacht hat. Daß das Heil und zumal seine eigene Wissenschaft aus dem Bauernstand kommt und zum Bauernstand will, das zu sagen versäumt er keine Gelegenheit. Ja, hier, im eigenbrötlerischen Schweizer ist etwas wie eine Internationale des Bauernstandes zu spüren. So eifernd er seine Schutzbefohlenen von den Modegecken, Überstudierten, Schmachtlappen, Stubenhockern in den Städten sondert, so generös kann er gelegentlich, wenn's um die Bauern geht, mit wahrhaft Hebelscher Weltbürgerlichkeit die Erfahrungen jenes Mannes heranziehen, „der verstopft war wie eine alte Weinflasche; keine Pille und kein Gift half mehr auf die Länge. Da brachte es das Geschäft mit sich, daß der Mann ein Vierteljahr unter den Bauern des nördlichen Frankreichs leben mußte. Dort bekam er kein Fleisch mehr“ – vor dem Künzle auch den Schweizern höllisch einheizt – „aber Milch, viel Gemüse, Habermus, Dünnbier.“ Und somit ist er am Bauerntische gesund geworden.

 

Der Kräutermann ist Naturkundiger – gewiß. Aber das felsenfeste Vertrauen in sein Naturwissen gibt er den Leuten erst, indem er ihnen keinen Zweifel über seine Stellung unter den Menschen läßt. Nur darum muß es den Niederen, mit denen er sich solidarisiert, so einleuchtend kommen, daß auch in der Natur das Unansehnlichste gerade das Beste ist, weil seine Apologie des Unkrautes nur die Kehrseite seines sozialen Bekenntnisses ist. „Sämtliche Unkräuter sind nämlich Heilkräuter.“ So das „gemeinste und verachtetste“ unter ihnen, „der Weg-Wegerich; er gleicht dem armen Taglöhner, der überall unten durch muß und der doch alle hinauflupft, den Graben reinigt und die Regierung wählt, aber selbst in letztere nie hineinkommt“ und ist doch in Wahrheit das „beste und häufigste aller Heilkräuter“. Hier ist es der demokratische Bürgerstolz, der den Ton angibt – immerhin einen ziemlich schrillen; bei der Mistel läuft schon Rebellisches unter. „Als lästiges, amtlich verbotenes und gesetzlich unzulässiges, allen Gemeinderäten und Landjägern verfallenes Unkraut“ ist sie „in allen 22 Kantonen eigentlich zum Trotz“ immer noch da. Und das ist nur ein Glück; schon der Pfarrer Kneipp hat sie den Bäuerinnen in der Regel ans Herz gelegt.

 

Die Tradition ist die große Erkenntnisquelle, die die Schlichten im Geist vor dem hochmütigen Formelkram der Studierten voraushaben. Pfarrer Kneipp, der die Losung „zurück zur Natur“ ausgab, Pater Ludwig, „ehemals Botanik-Professor in Einsiedeln, jetzt verstorbener Jubelgreis“, endlich der Herr selbst, „das vollendetste Muster für das rein natürliche Leben, das Ideal eines Menschen“ sind von dieser Überlieferung die Stifter, die mit der Offenbarung auch dies gemein hat, daß hin und wieder die Heiden sie zu verkünden wußten. So manches Heilkraut ist schon vor Christi Geburt beglaubigt. Unermüdlich ist dieser Schatz gemehrt worden, und so gibt es fast keine Krankheit, gegen die nicht eine große Anzahl von Mitteln genannt wäre. Meist stehen sie im Verhältnis der Steigerung, werden immer stärker und stärker. Es ist das alte Schema der Volksmedizin: quod ferrum non sanat … Bisweilen aber wird die Sache geheimnisvoll: dann ist auf einmal das letzte, stärkste von allen Mitteln zugleich das einfachste. Neun Kräuter marschieren gegen das Zahnweh auf, zum Schluß aber heißt es: „Wasche jeden Morgen das Gesicht mit reinem kalten Wasser; trockne es aber erst ab nach fünf Minuten; bringt Leuten Ruh, die sonst kein Mittel mehr finden.“ Man braucht nur an die ärztliche Ordination zu denken und sieht im Nu, welche Bewandtnis es eigentlich mit dieser Vielzahl von Mitteln hat. „So und so“ sagt der Arzt; das ist seine Diagnose. „Dies und dies“ sagt er; das ist seine Vorschrift. Pfarrer Künzle läßt dem Patienten – seinem Instinkt, seinem Glück, seinem Einfall – Spielraum. Auch holt er die Krankheit nicht aus dunkler Körpertiefe an das verletzende Licht der klinischen Wissenschaft: Blutkrankheit, Herzleiden, Augenweh oder Geschwulst – dabei bleibt es. Verschlägt dann das eine Mittel nicht, besteht noch immer Hoffnung auf das zweite oder dritte. Der Kräuterpfarrer aber, der zehn Mittel kennt, weiß mehr und exponiert sich weniger als der Arzt, der eines verschrieben hat. Er erscheint kundiger und liberaler zugleich.

 

Je länger man sich mit diesem schmalen Bändchen von vier Bogen beschäftigt, desto erstaunlicher wirkt der soziale Takt, die Schärfe des Klassengefühls (von Klassenbewußtsein ist nicht die Rede), die auf Schritt und Tritt Wort und Verhalten des Mannes regeln, der scheinbar nur durch Berg und Täler unter Gottes freiem Himmel sich botanisierend ergeht. Denn als sollte eine schlichte patriarchalische Gesinnung noch besonders ins Licht treten, beginnt das Buch nicht etwa mit den Krankheiten, sondern beschreibend: mit den Heilkräutern. Ehe es seinem offiziellen Zweck nachgeht, holt es gleichsam Atem im Bereich der beschreibenden Naturwissenschaft. Im übrigen wäre nichts aussichtsloser, als dieses kleine Meisterwerk „konstruieren“ zu wollen. Konstruierbar ist es so wenig wie eine Speise, und am Ende geben auch ihm nicht Grundstoffe, sondern Zutaten seine Würze. Weiß Gott, daß sie aus dem Vollen geschöpft sind! Das wäre zum Beispiel ein grober Irrtum zu meinen, der Bauernstolz, die Feindschaft gegen die Schulmedizin veranlasse unsern Mann, sich von der Wissenschaft abzukehren. Im Gegenteil. So spröde er sich gegen sie verhält – ihre Primeurs sind ihm gerade gut genug für sein Publikum. Warum sollte man es dem Sennen oder der Magd denn auch vorenthalten, daß Sankt-Benedikts-Kraut oder Storchschnabel ihre Tugend der Radioaktivität verdanken? Freilich geht es bei dieser Information nicht ohne einen Ausfall gegen „die naseweise Wissenschaft des 18. Jahrhunderts ab, die alles verwarf, was sie nicht begriff“, und die Volksweisheit aus ihren Rechten verdrängen wollte. Die, vielleicht sehr viel naseweisere, Theologie des achtzehnten Jahrhunderts läßt Pfarrer Künzle sich allerdings gern gefallen: „Wie gütig hat doch die göttliche Vorsehung bei Erschaffung der Pflanzen an die Menschen gedacht.“ Und die Heilkräuter hat sie dem Menschen überall „in den Weg gestreut, daß er gern oder ungern sie immer zur Hand habe“.

 

Ein Schuß Deismus, ein Schuß Ionentheorie – solch echtes, rechtes Durcheinander ist die ganze Schrift, Kraut und Rüben ihre Kapitelchen. Man besinne sich aber auf Bauernkalender, Almanache und ähnliche Drucksorten und man wird sich damit abfinden müssen, daß das Volk solche Unordnung in seinen Büchern liebt. Warum? Soviel ist sicher: Gewohnte Unordnung heimelt an; ungewohnte Ordnung wirkt frostig. Und wer gelegentlich Dienstboten mit dem Nachschlagen einer Telephonnummer beauftragt hat, weiß, daß längst nicht alle, die lesen lernten, nachschlagen können. Für die, die es verstehen, sorgt hier ein alphabetisches Verzeichnis der Krankheiten, davon abgesehn aber ist die Zerfahrenheit nur die Kehrseite von dem enzyklopädischen Charakter des Buches, der dieser Art von Schriftstellerei so ausgezeichnet entspricht. Was kommt hier nicht alles vor und über wievieles, das man hier am wenigsten suchen würde, kann man beim Lesen sich seine Gedanken machen? Da stößt man auf Babylon und New York, Kosaken und Bulgaren, Schleierfräulein und Naseherren, Frauenstimmrecht und Majestätsbeleidigung, vermummte Wilderer und Juden, Gesundheitskommissionen und Schutzengel, ganz zu schweigen von den vielen Bekannten, den Toni, Alfred, Jakob, Seppl, den Liseli, Babeli usw. Man betrachte nur einmal den Zug, den die Professoren hier anführen, und wird nicht wissen, ob man es mit einer Doréschen Illustration zum Rabelais zu tun hat oder mit einem Prospekt des rheinischen Karnevals. „Professorentee“ heißt es in großen Buchstaben: „So benenne ich den Tee, der hauptsächlich für Leute bestimmt ist, die wie Professoren, Kommandanten, Hauptleute, Prediger, Katecheten, Lehrer, Portiers an Bahnhöfen, Ausrufer usw., viel und laut sprechen müssen.“ Unstetes Volk sind hier die Professoren, die mit den standfesten Bauern in dieser Welt es nicht aufnehmen können. Ein andermal erscheinen sie in Gesellschaft der Bahnbeamten; nicht lauten Sprechens wegen (obwohl doch Züge oft laut abgerufen werden), sondern wegen der Nachtarbeit. Beiden werden Luftkurorte verordnet, „wo weder viel Fremde noch Klaviere und Hunde sind, aber dafür viel Tannen und rauschende Bäche“. Tannen und rauschende Bäche: auf ihrem Grunde aber das verklärte Bild des Schweizer Bauernstandes, um den alle Heilkräuter nur der Kranz sind. „O glückseliger Bauernstand, dein größter Miststock stinkt bei weitem nicht so arg wie der Hochmut der Gebildeten. Nicht umsonst wollte der Herrgott in einem Stalle zur Welt kommen.“

 

Solche Bücher sind von ihrem Erfolg nicht zu trennen. Sie sind bestimmt, mit zerfetzten Seiten, Eselsohren, Unterstreichungen, Tintenflecken den Lebensweg ihrer vielgeplagten Besitzer zu teilen und bald den Arzt, bald den Lehrer, bald den Dichter und bald den Humoristen, bald den Pastor und bald den Apotheker zu machen. Sie können dem Kritiker, dem an dem vielen Romanbrei die Zähne locker geworden sind, zeigen, was zwischen sie gehört. Denn die Wendigkeit, Anwendbarkeit, die in diesem banausischen Hausschatz mit Händen zu greifen ist, liegt, tief verborgen, der großen Dichtung zugrunde. Hier beruht sie auf der uralten Lehre von den zwei Weltmächten: Licht und Dunkel, Ormuzd und Ariman, Chrut und Uchrut. Sie alle münden in den Gegensatz: Bauer – Städter. Das ist des Pfarrers Künzle Menschenkenntnis, gegen die seine Kräuterkenntnis ein Hund ist.

 


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