TexturenMethodik
Wilhelm Scherer: Der Tauschwerth der Poesie und der litterarische Verkehr
[aus: Wilhelm Scherer: Poetik, Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, 1888, S. 84-94.]
A. Der Tauschwerth der Poesie und der litterarische Verkehr
Ruhm ist immerhin eine der Belohnungen, welche der Sänger erstrebt. Noch früher aber strebt er nach materieller Begünstigung. Er war ein Fürstendichter, und er wollte, daß man ihn erhielt. Der Possenreißer, der umherzog, erwartete auch beschenkt zu werden.
Der Dichter, der zum Gefolge des Fürsten gehört, wie der, der von Hof zu Hof zieht, begehrt Lohn, will sich bereichern. Er begehrt vielleicht einen Armring, und diese Armringe geben einen Werth. Und so früh dies vorhanden, so früh hat die Poesie nicht bloß einen idealen, sondern auch einen nationalökonomischen Werth, Tauschwerth.
Die Poesie ist also schon in alter Zeit eine Art von Waare. Ihr Werth regelt sich nach Angebot und Nachfrage, nach dem Verhältniß von Production und Consumtion. Dies Verhältniß hat in neuer Zeit einen bestimmten Ausdruck erhalten, insofern es das litterarische Product als bloße Waare angeht. Seit dem 15. Jahrhundert mindestens gab es in Deutschland einen Buchhandel, der dann durch die Leichtigkeit der Production bald einen Aufschwung nahm; der Buchhandel hat die Anerkennung der Poesie als Waare durchgesetzt. Im 16. Jahrhundert waren die Buchhändlerhonorare noch nicht fest eingeführt; es war noch zweifelhaft, ob es ehrenvoll sei, ein Honorar anzunehmen. Nach und nach wurde es immer fester. Ganz fest ist es indessen noch heute nicht; wenn hochgestellte Männer, die nicht Schriftsteller von Beruf sind, einmal schreiben, so nehmen sie in der Regel kein Honorar oder widmen das Honorar öffentlichen gemeinnützigen Zwecken.
Die Poesie oder, besser gesagt, das poetische Product, ist heut eine Waare wie eine andere, und die nationalökonomischen Gesetze des Preises und Umsatzes haben auch auf das poetische Product, wie auf das Buch im Allgemeinen, ihre Anwendung. S. Zola, La question d'argent dans la littérature. Morley in seiner englischen Litteraturgeschichte fügt Angaben über die Honorare der Schriftsteller bei, was ich doch bei so beschränktem Raum nicht wagen würde zu thun. Doch wäre eine Geschichte der Preise sehr wünschenswerth, d. h. eine Geschichte der Honorare, und dabei das Verhältniß zum jeweiligen Werth des Geldes zu berücksichtigen.
In Beziehung auf den Verkehr der litterarischen Waare hat ein ungeheurer Umschwung der alten Zeit gegenüber sich vollzogen. Man braucht nur an den Contrast zu denken, der sich im Nachrichtenwesen zeigt: der fahrende Sänger, der Spielmann, welcher im Mittelalter die Rolle des Journalisten spielt - und die Zeitungen von heute. Es hat sich auch die Production dadurch vielfach verändert: denn die Factoren der Vermittlung zwischen Producent und Consument, d. h. zwischen Dichter und Publicum, sind außerordentlich complicirt geworden; und diese haben einen gewissen Einfluß auf die Production. Jetzt sind die Zeitungen solche Vermittler auch für die Poesie: sie theilen z. B. Romane im Feuilleton mit, Gedichte weniger. Sonst steht zwischen Dichter und Publicum der Verleger und der Sortimenter. Dazu kommen dann noch weitere Factoren, z. B. in Deutschland die Leihbibliothek. Alle diese Factoren wirken auf die poetische Production ein; sie tragen dazu bei den Preis zu bestimmen, sie stehen in Concurrenz und werben um das Publicum.
Durch alle diese Vermittlungen sind schon gewisse Formen geschaffen, und Formen ganz neuer Art. Z. B. wäre das Feuilleton ohne das heutige Journalwesen nicht möglich; und es ist gar nicht mehr, was es eigentlich heißt. Ebenso ist es mit der Recension, der litterarischen Notiz. Andererseits sind in der neuen Form die alten Keime oft noch kenntlich; so vertritt die Tagesneuigkeit das uralte Element der Anekdote oder Novelle, das Herumtragen merkwürdiger Fälle, welches Kern des Märchens ist. Deshalb konnte Achim von Arnim den Dichtern rathen, ihren Stoff in der Zeitung zu suchen. Denn dies Element des Unterhaltenden ist das eigentliche Element der Poesie, und so repräsentirt die unterhaltende Nachricht in der heutigen großen politischen Zeitung die Poesie. Freilich sieht man näher zu, so ist vieles complicirter. Dann ergiebt eine Analyse z. B. eben des Feuilletons, daß dies mannigfacher Art ist; es ist aus verschiedenen Theilen zusammengesetzt, die schließlich doch wieder auf die alten Gattungen zurückgehen. Es ist z. B. belehrender Natur wie das Lehrgedicht, z. B. Nekrolog wie das Klagegedicht. Man sollte einmal das Feuilleton irgend einer gut redigirten und viel gelesenen Zeitung daraufhin analysiren. Am glänzendsten ist das eigentliche Feuilleton im Pariser >Figaro< vertreten, der im Grunde von Anfang bis zu Ende nur Feuilleton ist.
Neben diesen neuen Formen wirken aber die alten noch direct auch in der Zeitung fort. Die Tagesneuigkeiten z. B. sind nicht immer aus dem Leben geschöpft. Wenn kein Stoff da ist, werden sie gemacht, erfunden, wobei poetische Traditionen wirken.
In all diesen Formen vermittelt der Journalismus zwischen dem Producenten und dem Consumenten litterarischer Producte.
Aber auch der Buchhandel ist nicht ohne Einfluß auf das Publicum. Die Sortimenter haben ihre Erfahrungen von dem kaufenden Publicum; sie benachrichtigen den Verleger, und so wirken die Erfahrungen der Sortimenter auf den Verleger. Diese Erfahrungen lassen sich statistisch ausdrücken in den Zahlen der bestellten Exemplare. Und unter dem Druck dieser Erfahrungen, unter dem Druck dessen, was ihm sein Verleger, was ihm die Redaction der Zeitung, mit der er in Verbindung steht, mittheilen, steht die Production des Autors.
Aber damit nicht genug; es kommt noch ein Hauptfactor für den Erfolg: die Recensenten.
Noch schlimmer steht es für den Dramatiker. Er hat auch mit dem Urtheil des Directors über Bühnenfähigkeit, mit den Wünschen der Schauspieler zu rechnen. Der Einfluß der Schauspieler ist oft sehr groß gerade bei gesunden Verhältnissen; sie urtheilen nach ihren Rollen, und der Durchschnitt der Rollen ergiebt die Stimmung der Schauspieler dem Stück gegenüber. Denn wie natürlich wollen Alle dankbare Rollen haben. Dafür genügt die Vertheilung der Rollenfächer auf bestimmte Schauspieler nicht. Oft nimmt der Dichter schon auf ein bestimmtes Theater Rücksicht: vornehme Wiener Dichter nehmen Rücksicht auf das Burgtheater und schreiben gewissermaßen den Schauspielern die Rollen auf den Leib. Der Autor muß sich für die Schauspieler einrichten. Es ist nicht wahr, daß der Dichter sich damit wegwirft: denn wenn er diese Rücksicht auf die vorhandenen Schauspieler nimmt, hat er eine starke Garantie des nöthigen Erfolgs. Bei einem tüchtigen Theater wird der Dichter auch nicht leicht damit auf schlechte Wege gerathen.
Dann kommen wieder die Recensenten, welche oft den Erfolg ganz allein entscheiden - in gewissen Grenzen; wenn man in einem Lustspiel viel lachen kann, so mögen die Recensenten sagen was sie wollen: das Publicum geht hinein. Dagegen beim Trauerspiel steht es anders; wenn die Recensenten nicht sagen: du mußt hineingehen, das ist höchst ausgezeichnet oder höchst merkwürdig - so geht niemand hinein. Die Meisten suchen nach der nächsten betreffenden Recension, um eine Tragödie nicht sehen zu dürfen.
Die Lehre vom litterarischen Erfolg ist äußerst schwierig, und die Erfahrensten, welche dies Kapitel schon lange studiren, trauen sich selten eine Vorhersage zu. Ja es können plötzlich Zeitverhältnisse eintreten, die das Werk völlig ersticken.
Gewiß sind die fachmäßigen Recensenten ein maßgebender Factor. Nicht immer sind sie ihres verantwortungsvollen Amtes eingedenk. Die Recensenten von Fach haben in der Regel wenig Zeit und können die Bücher nicht alle lesen; und die Hauptsache ist, daß Recensent und Publicum es immer für sicherer halten zu tadeln. In Wahrheit ist richtig loben das Allerschwerste.
Über die Geschichte der Recensionen ließe sich viel sagen. Für die deutsche Litteratur ist es nicht zu bezweifeln, daß im 18. Jahrhundert die Kritik sich um das riesige Aufsteigen sehr verdient gemacht hat; ja man würde das Ansehen der Kritik in Deutschland gar nicht begreifen ohne die Verdienste Lessings; und schon vor Lessing wird die Principienfrage über Homer und Milton erörtert. Lessings Stellung ist eine ganz unvergleichliche; wenn er nicht ein so starkes Regiment geführt hätte, würde unter der Masse des Unbedeutenden das Bedeutende nicht groß geworden sein. Lessing wirkt erziehend auf Wieland, beschränkend auf die kleinen Dichter. Aber freilich konnte Lessings Kritik allein nicht dauernd aufräumen; es war ein starkes Gewitter, aber von Zeit zu Zeit mußte immer ein neuer Hagelschlag kommen. So mußten wieder die Xenien aufräumen. Goethe selbst hatte für sich das Gefühl, daß er durch die Kritik nirgends wirklich gefördert worden sein. Etwas wahrhaft Bedeutendes wird niemals durch die Kritik zerstört oder vernichtet, wohl aber kann es aufgehalten werden. So mußten Goethe und Schiller durch das Strafgericht, welches sie ergehen ließen, für ihre bedeutenden Anschauungen erst Raum schaffen. Schiller hatte ja überhaupt eine populäre Ader; aber für Goethe war viele Jahre hindurch das Publicum ein engerer Freundeskreis. Und diesem Publicum konnte er denn freilich Großes zumuthen.
Von Zeit zu Zeit ist ein scharfes Vorgehen der Kritik durchaus nöthig; so mußte seiner Zeit der überschätzte Gellert zurückgedrängt werden, während die Litteraturgeschichte jetzt ihm wieder gerecht werden muß. Innerhalb der kleinen Gattung, die er pflegte, hatte er jedenfalls große Verdienste; er wurde in allen Ländern anerkannt, ihm haben wir es mitzudanken, daß später die Poesie so große Kreise gewann.
Die Kritik war auch oft zu streng. Bei einer im Verfall begriffenen Gattung, wies es z. B. jetzt das deutsche Drama ist, müßte die Kritik die ernste Gesinnung unterstützen. Statt dessen können jetzt wahre Talente wie E. v. Wildenbruch todt gemacht werden, z. B. weil sie Fehler in der Motivirung begehen, wie es Schiller auch thut. Dem Drama gegenüber hat der Recensent eine ganz besondere Verantwortlichkeit, weil das Publicum hingehen und Arbeit thun muß. Dazu kommt dann noch die Gefahr, daß die Schauspieler dem Stück schaden.
Viel leichter ist der Erfolg, wenn man den Stoff in Buchform hat. Hier liegt ein unmittelbarer Contract vor. Ferner kann man das Buch ja zu jeder Stunde lesen, wo man gerade aufgelegt ist. Nach der Ansicht der Meisten thut hier mündliche Empfehlung das Beste; gegen diese kann schließlich selbst die Kritik nicht aufkommen. Denn zuweilen ermannt sich das Publicum zu eigener Meinung und wirft seine Vormünder ab: die mündliche Empfehlung überwindet alle Verkehrtheit und allen bösen Willen der Kritik. Das mannhafte Eintreten des Einzelnen kann oft viel in einem bestimmten Kreise und selbst in weiten Kreisen wirken.
Lehrreich wäre eine Analyse der Kritik. Die kleinen Kritiker achten auf den oder die großen Kritiker, auf das was er sagt oder was er vermutlich sagen wird. Das Publicum horcht auf die Kritik. Dazu die Premieren: ein starker Erfolg macht häufig die Kritiker zu Schanden.
Das Grundverhältniß ist doch dies, daß diese Beherrscher des Publicums nur die Diener des Publicums sind. Der entschiedene Ausspruch des Publicums zähmt die Recensenten. Und so darf man sagen: bei der heutigen Organisation des litterarischen Verkehrs haben im Allgemeinen die Culturvölker die Poesie, die sie verdienen. So kann die ganze Nation für den Stand ihrer Litteratur verantwortlich gemacht werden. Doch aber mit Einschränkung? Die hinreißenden Genies, die alles mit sich fortziehen - ob die kommen oder nicht kommen, dafür ist das Publicum doch wohl nur in geringem Maße verantwortlich, darauf hat es nur geringen Einfluß.
Es herrscht heut auf dem litterarischen Gebiet eine entschieden demokratische Verfassung mit allgemeinem gleichem Wahlrecht. Wie anders früher die monarchische oder aristokratische Verfassung! Wie anders die Zeiten, in denen die Dichter keine anderen Rücksichten kannten als auf den einen Mäcen, oder auf einen Freundeskreis! Der frühere Dichter mußte nur Einem schmeicheln, um zu gefallen, der heutige Dichter muß dem ganzen Publicum schmeicheln. Wenn nun jener Mäcen ein freisinniger, ein groß denkender Mann war, wie etwa Carl August - ein Mann, der nur die Freude haben wollte, um sich Poesie blühen und gedeihen zu sehn, dann konnte sich der Dichter nichts Günstigeres wünschen. So war Goethe gestellt. Und doch war dieser Umstand in gewissem Sinn für ihn vielleicht verhängnisvoll, weil er gleichsam nur sich selbst zum Publicum hatte: daher kommt es denn, daß, wo er sich am eigenthümlichsten gab, seine Producte unvorbereiteten Boden trafen und nur ganz allmälig durchdrangen. Noch heute wird z. B. die >Achilleis< oder die >Natürliche Tochter< nicht genügend gewürdigt.
Das Vorstehende sind einige Bruchstücke aus einem wichtigen Theile der Poetik, aus der Lehre vom Erfolg.
Sie zeigen zugleich andeutungsweise, wie der Erfolg zum Theil abhängig ist von den Factoren, welche an der Verbreitung der Poesie betheiligt sind. Diese haben wir noch nicht vollständig besprochen. Hierher gehören z. B. noch die Leihbibliotheken: es ist wichtig für den Erfolg mancher Bücher, ob die Leihbibliotheken sie anschaffen oder nicht und die Anschaffung richtet sich u. a. nach der Dicke der Bände. Noch ein anderes Institut mag erwähnt werden: die Buchhandlung von Volckmar, welche gebundene Bücher herstellt, falls ein Sortimenter Absatz nachgewiesen. Hier handelt es sich besonders um die Präsumtion, ob ein Buch ein Weihnachtsbuch ist oder nicht.
Sobald das Buch einmal ins Publicum gedrungen ist, steht im Allgemeinen nichts mehr zwischen dem Dichter des Buchs und dem Publicum. Dann redet der Autor unmittelbar. Beim Drama steht es nicht ganz so. Das Drama ist nur vollständig in der Aufführung; denn das Lesedrama bleibt doch ein Ding, das nicht leben und nicht sterben kann. Hier kann also der Dichter nicht unmittelbar zum Publicum reden; der Schauspieler ist ihm unentbehrlich. Damit hat das Schauspiel einen Zustand gewahrt, der früher allgemeiner auch auf andern Gebieten herrschte. Heute spielt der Vorleser eine geringe Rolle. Vorleser, die in Declamationen Gedichte, Novellen vortragen, wie z. B. Lewinsky in Wien, sind jetzt Ausnahmen. Meistens liegt die Sache heute so, daß die Declamatoren von einem schon vorhandenen Ruhm, z. B. Reuters, zehren, daß sie also nicht erst Ruhm schaffen. In früherer Zeit war das anders, der Vorleser hatte eine wichtige Aufgabe. Man denke auch an den Märchenerzähler. So bei Naturvölkern, und so in älteren Epochen bei Culturvölkern.
Gehen wir zurück ins 15. und 16. Jahrhundert, so ist die Kunst des Lesens noch wenig verbreitet, und deshalb erscheinen viele Bücher mit Holzschnitten. Freilich haben wir auch heut eine Zunahme der Illustration, ein wahres Illustrationsfieber: der heutige Leser ist zu faul um zu lesen und soll deshalb aufgelegte Bücher müßig durchblättern. Aber jene Holzschnitte des 15. und 16. Jahrhunderts sollen dem Vorleser das Werk erleichtern, und dem, der nicht lesen kann, mit dem Bild einen Anhaltspunct geben. So haben Sebastian Brant und Thomas Murner Gemäldelieder verfaßt: das Bild ist die eigentliche Hauptsache, und die Verse sind nur Commentar zum Text.
Noch weiter zurück kommen wir in Zeiten, wo noch weniger gelesen wird, wo daher Vorsänger und Vorleser eine noch bedeutendere Rolle spielen, etwa ins 12. und 13. Jahrhundert, wo die Fahrenden aus dem Vortragen, dem Sagen von epischer und Singen von lyrischer Poesie ein Gewerbe machen. Die Handschrift ist hier eini Hilfsmittel für den Vorleser; durch die Vortragenden wird die Poesie Wolframs, Walthers u.s.w. verbreitet. In diese Zeit ragt auch noch ein älterer Zustand hinein: daß die Dichter selbst nicht schreiben können, wie Wolfram von Eschenbach und Ulrich von Lichtenstein. Sie dictiren dann ihren Schreibern. Aber es ist doch in dieser Zeit die Regel, daß der Dichter schreiben und lesen kann.
Noch weiter zurück wird überhaupt nicht geschrieben: die Poesie pflanzt sich nur mündlich und gedächtnißmäßig fort.
Vgl. meinen >J. Grimm< Kap. 5 (S. 117-153), wo ich andeutungsweise ausführte, daß der Unterschied von Natur- und Kunstpoesie, ja annähernd auch der Unterschied von Volkspoesie und Kunstpoesie - soweit er überhaupt richtig - zurückgeht auf den zwischen ungeschriebener und geschriebener Poesie. Diese Frage gehört also in die Lehre vom litterarischen Verkehr, soweit die Behauptung jenes tiefgreifenden Unterschiedes überhaupt wahr ist; denn in Wirklichkeit ist es ein sehr relativer Unterschied.
Herder hat wohl zuerst jenen scharfen Unterschied machen zu müssen geglaubt; dann besonders die Romantiker. So ist auch in den frühen Schriften der Brüder Grimm viel davon die Rede. Dieser Unterschied ist ja auch für das Mittelalter grundlegend: in der deutschen wie in der französischen Dichtung müssen Volksepen und Kunstepen geschieden werden; in Deutschland sind sogar auf dem Gebiete der Heldensage beide Arten vertreten. Aber es geht doch zu weit, wenn Carriere (Die Poesie S. 173 ff.) den Unterschied von Volks- und Kunstpoesie für so wichtig hält, daß er ihm ein eigenes Kapitel widmet. So berechtigt es ist, z. B. um 1200 von Volkspoesie einerseits, von höfischer Poesie andererseits zu reden: es ist doch für die Poetik kein fundamentaler Unterschied; es ist ein Stilgesetz, aber nicht anders zu beurtheilen als andere Stilgesetze.
Die alte Anschauung führte mit der Überspannung dieses Gegensatzes zu gefährlichen Consequenzen. Ging doch J. Grimm so weit zu meinen: "Volkslieder dichten sich nur selbst" - eine unklare Vorstellung, die schon Lachmann widerlegte, als er die Nibelungennoth in Lieder von verschiedenen Verfassern auflöste. Sie ist ferner gefährlich, weil man damit die Vorstellung von radicalen Unterschieden in der dichterischen Production verbindet, während das dichterische Geschäft überall dasselbe ist.
Es ist von vornherein zuzugeben, daß der Unterschied zwischen volksthümlicher und höfischer Dichtung für das Mittelalter völlig richtig ist. Aber dieser Unterschied besteht darin, daß dem kunstmäßigen Stil hier, dem volksmäßigen dort verschiedene Traditionen zu Grunde liegen. Die volksthümliche Poesie ist die ältere, die einheimische Kunst, die höfische eine halb importirte, durch fremde Muster zum Theil bedingt, unter dem Einfluß fremder Muster aus jener einheimischen Manier herausgebildet. Die Moden sind noch local gesondert: in gewissen Theilen Deutschlands haben wir die einheimischen, in andern neue, fremde Moden. Das Land, welches auf die Kunstpoesie den meisten Einfluß hatte, war Frankreich; daher zunächst am Rhein die Einwirkung, die sich später weiter verbreitet und ins innere Land eindringt. Wir haben also einfach den allbekannten Gegensatz von Antiqui und Moderni, der sich so oft in Poesie und Wissenschaft wiederholt; niemals ist ja eine Litteratur ganz einheitlich. Sehr wichtig ist ein weiteres Moment: der verschiedene Stand der Dichter, welcher zugleich verschiedene Bildung voraussetzt. Träger der Volkspoesie sind die fahrenden Sänger, Vertreter der kunstmäßigen Dichtung die Adeligen. Aber auch dieser Unterschied, die verschiedene Einwirkung von Stand und Bildung auf die Production, ist einer, der sich zu allen Zeiten geltend gemacht hat, nicht bloß im Mittelalter.
Es wäre nun möglich, alle solche Momente, die wir für den Gegensatz in der deutschen Poesie des 12. und 13. Jahrhunderts in Anschlag gebracht haben, näher zu untersuchen und zu prüfen, ob sie maßgebend oder unwesentlich sind. Einzelne Momente liegen in der Natur des Dichtens überhaupt und sind daher unvermeidlich; dafür wäre der Nachweis zu führen. Andere aber sind nicht wegzuschaffen und schließlich bleiben nur die Momente, die auf den Unterschied von geschriebener und ungeschriebener Dichtung zurückgehen. Es sind das zwei Momente:
1. Die höfischen Dichter schöpfen aus dem Buch, die volksthümlichen aus gedächtnißmäßiger Überlieferung. Dort kann der Stoff ausschließlich von Buch zu Buch gegangen sein; hier dagegen waltet die lebendige Sage. Für die Entstehung der Sage und für das eigenthümliche Leben der Sage ist der Mangel an schriftlicher Überlieferung geradezu entscheidend in der Lehre vom Epos. Hier giebt der Unterschied von Sage und Epos einerseits, Geschichte andererseits, d. h. genauer und ungenauer Überlieferung den Ausschlag. Das Epos ist in älterer Zeit Ersatz der Geschichte. Was man nicht genau weiß, wird durch ungenaue Versionen ersetzt. Die Sage ist die unwillkürliche und und nothwendige Entstellung historischer Berichte, beruhend auf dem unvollständigen Wissen und der mangelhaften Fortpflanzung derselben; eine Entstellung, wie sie ohne schriftliche Controle, d. h. ohne die die Controle von schriftlichen Zeugnissen der Zeitgenossen und Augenzeugen, sich einstellen muß. Dazu kommt nun noch, daß man eine lückenlose Erzählung zu geben und deshalb die Lücken auszufüllen sucht, und dies geschieht dann nach gewissen Schablonen und wahrscheinlich oft vorkommenden und deshalb dem Erzähler nahe liegenden Mustern. Das gilt sowohl für Stellen, in denen der ursprüngliche Bericht nicht genau, nicht ausführlich genug scheint, als für solche, die der Erzähler vergessen hat, und so bilden sich in der Sage gewisse typische Formen. Schon das vergrößernde Gerücht, das die Kunde von einer Thatsache weiter trägt und bis in ferne Gegenden bringt, wird diese Umformung der Verhältnisse vornehmen und zwar im Sinne der Durchschnittsverhältnisse.
2. Eine weitere Folge der schriftlosen Verbreitung ist das Zurücktreten des individuellen Stils in der Naturpoesie. Nicht der Dichter selbst ist in der Lage sein Werk zu verbreiten: er kann nicht überall hingehen, und wenn erst Gedichte ihren Verfasser überleben, laufen sie durch vieler Leute Mund. Das Gedächtniß pflegt nicht so unbedingt treu zu sein; und wo das Gedächtniß im Stich läßt, tritt das Gewöhnlichere für das Seltenere ein, weil die Verbreiter in der Regel weniger bedeutend sind als die Autoren. Wo Autoren sich stark ins Ungewohnte erheben, da verwischen das die beschränkteren Verbreiter, theils aus Unfähigkeit (das Gewöhnliche findet sich in ihrem Gedächtniß leichter ein), theils aus Mangel an ästhetischer Bildung (das Gewöhnliche gefällt ihnen besser). Man kann Studien über die Verbreiter machen bis auf die Gegenwart; Volkssänger, Sammler, sogar Abschreiber, ja noch Setzer, so auch Reporter. Das schnellere Schreibtempo im 15. Jahrhundert - eine Folge der größeren Nachfrage - zieht leichtsinnigere Überlieferung nach sich: der Schreiber liest den ganzen Satz nur einmal und gestaltet ihn sich nun um; so ist es noch heute mit den Setzern. Der Reporter, der eine Rede wiederzugeben hat, macht sie ordinärer: z. B. wo der Redner nur eine Strophe anführt, da verlängert der Reporter das Citat, und wo jener einen Gedanken als trivial verschweigt, da findet man ihn sicher im Bericht ausgesprochen. So macht ein Gedicht, das von Mund zu Mund durch viele Leute geht, alle Moden mit und gewinnt auf diese Weise etwas Typisches und Formelhaftes. Das eben ist das Typische und Formelhafte der "Volkspoesie", und dies beruht auf der mangelhaften Überlieferung: das Individuelle hat eine geringere Macht in der mündlich verbreiteten ungeschriebenen Poesie.
Etwas anderes, aber verwandt, ist der Gegensatz der großen natürlichen Talente und derer, die es nicht sind; jene sind von Natur Dichter, diese bloß durch Reflexion und Bildung. Mit dieser Frage hat der Streit des 18. Jahrhunderts, ob es auf Natur und Genie oder Kunst und Regel ankomme, den Gegensatz von Naturdichtung und Kunstdichtung vermischt. Das giebt allerlei Kreuzungen. Faßt man aber den letzterwähnten Unterschied allein ins Auge, so ergeben sich drei Klassen, die Lessing in seiner Vorrede zu Jerusalems >Philosophischen Aufsätzen< unterscheidet: die Regel, meint er, ist immer von Nutzen; denn dem Genie kann sie nicht schaden, wenn es sie auch nicht braucht; ein geringerer Dichter kann mit Kenntniß der Regel noch immer etwas leisten; aber ein geringer Dichter ohne Fleiß ist nichtig.
So viel über Tauschwerth der Poesie und litterarischen Verkehr. -
Kommentar schreiben